Guru Granth Sahib liegt auf seinem Thron unter kunstvoll bestickten rosaroten Seidentüchern ganz versteckt. Ein Mann sitzt im Schneidersitz hinter dem Thron und wedelt unaufhörlich über den Guru. Der podestartige Thron ist unter dem goldenen Dach eines Minitempels (Gurdwara genannt) plaziert, der ganz vorne in der grossen Gottesdiensthalle steht. Alle Blicke richten sich auf Guru Granth Sahib. Rechts des Minitempels steht ein weiteres Podium, etwas tiefer gebaut als der Thron des Gurus. Dort sitzt ein Sikh-Priester im Schneidersitz und predigt in einer mir gänzlich unbekannten Sprache ununterbrochen auf die vielleicht zwanzig Menschen ein, die in der grossen Halle etwas verloren wirken. Die Betenden sitzen auf dem weichen Teppichboden, ebenso wie die zwanzig Konfirmanden und Konfirmandinnen der Halden-Gemeinde. Nach einer halben Stunde verlässt der Priester das Podium. Drei Musiker nehmen seinen Platz ein und spielen fernöstliche Klänge auf dem Harmonium. Ununterbrochen wedelt der Mann im Gurdwara über Guru Granth Sahib.
Singh, der uns durch den Sikh Tempel in Southall westlich von London führt, versucht uns zu erklären, was hier passiert. Doch Singh versteht unsere Fragen nicht und wir verstehen seinen Akzent nicht. Die Annäherung an die Religion der Sikhs ist eine holprige Angelegenheit, die von vielen Missverständnissen aber einer durch und durch herzlichen Atmosphäre geprägt ist. Auszüge aus dem Gespräch (wobei ich als Übersetzerin zwischen Singh und der Klasse tätig bin, während der Prediger im Hintergrund ziemlich laut ins Mikrofon spricht):
Ich: "So is Guru not a human being?"
Er: "Guru is the word! It means from dark to light. Guru leads us from dark to light. The body is not important."
Ich zur Konfklasse: "Also irgendwie verstehe ich das so, dass Guru nicht eigentlich ein Mensch ist, sondern vom Körper losgelöst, eine Art Lebensweisheit, das Wort."
Eine Konfirmandin: "Verstehst du, was du grad sagst?"
Ich: "Nein, nicht wirklich. Ich bin ein bisschen verwirrt grad..."
Auch weitere Versuche, hinter das Geheimnis des Sikhismus zu kommen, gestalten sich erstmal eher schwierig. Doch Singh zeigt uns begeistert den Tempel und wir sind begeistert von der offenen Art Singhs und so hören wir gespannt zu, wie er uns erzählt, dass Guru Granth Sahib jeden Abend nach dem Gottesdienst (der den ganzen Tag dauert) rituell auf dem Kopf des Priesters zu Bett gebracht wird, in den "Scripture room". Also scheint Guru Granth Sahib ein Buch zu sein...
Das Geheimnis um den Glauben der Sikhs beginnt sich zu lüften, als die Führung ein Kollege Singhs, Singh, übernimmt, der eigentlich für den Besucherdienst zuständig ist. Er entschuldigt sich, dass er sich erst jetzt Zeit nehmen kann, da eine 200köpfige Schulklasse gerade im Tempel zu Besuch ist. Singh weiss ganz genau, wie er einer christlichen Klasse seine Religion erklären kann. Und somit lüftet sich auch das Geheimnis um den körperlosen Guru Granth Sahib. Zwischen 1469, der Gründerzeit der Religion, und 1708 gab es zehn Gurus, weise Männer, die das Wort Gottes zu den Menschen brachten. Der letzte Guru beschloss 1708, dass nun die Reihe der lebenden Gurus zu Ende sei und die Worte der Gurus in einem Buch zusammen gefasst werden sollen. Dieses Buch ist der ewig lebendige Guru, der die Menschen leitet und inspiriert. Guru Granth Sahib ist also tatsächlich ein Buch - das heilige Buch der Sikhs, das die Reihe der Gurus abschliesst.
Der Sikhismus hat sich im 15. Jahrhundert vom indischen Kastensystem und somit vom Hinduismus gelöst und vertritt die Gleichheit aller Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft. Wirklich verblüfft hat uns die ungebrochene Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Sikhs. Gastfreundschaft ist nicht nur ein Nebenprodukt der Religion. Um die Aufnahme von Gästen dreht sich alles, nicht nur im übertragenen Sinne, sondern ganz konkret: Zentrum jedes Sikh Tempels ist der Esssaal und die Küche, in der von vier Uhr morgens bis neun Uhr abends gekocht wird... genauso lange wie Gottesdienst gehalten wird. Das wiederholt sich Tag für Tag für Tag. Das Essen bei den Sikhs ist kostenlos, für jeden Menschen, der den Weg in ihren Tempel findet. Auch die Konfirmationsklasse wird selbstverständlich zum Esssaal geführt und verköstigt. Für die Jugendlichen gibt es wahlweise indisches Essen oder Pasta - alles vegetarisch, denn das Töten von Tieren ist gegen das göttliche Gebot und schlecht fürs Karma.
Laut einer BBC Reportage befindet sich die grösste Küche der Welt im Haupttempel der Sikhs in Amritsar, Indien (hier im Bild).
Auf dem Weg zurück nach London sprechen wir über Guru Granth Sahib und das Prinzip der Wiedergeburt. Doch Gesprächsthema Nummer eins ist die Warmherzigkeit der Menschen, die wir im Tempel angetroffen haben. Die Konfirmanden schwärmen von Singh, den zwar niemand wirklich verstanden hat, der uns durch seine Art aber doch alles gesagt hat.