Die Angst vor dem Tod begleitet mich, seit ich denken kann. Schon als Jugendliche habe ich oft über den Tod nach gedacht und mir überlegt, wie das wohl ist, wenn man stirbt und was uns auf der anderen Seite des Lebens erwartet. Eine Antwort auf diese Fragen habe ich auch heute als Pfarrerin nicht. Ich erwarte aber auch nicht, eine zu finden. Bei Abdankungen sage ich das auch so: "Wir wissen nicht, was uns auf der anderen Seite erwartet und wo XY jetzt ist." Das schätzen viele Trauernde, denn die Ungewissheit lässt sich letztendlich mit keinem theologischen Gedankenspiel weg reden. Ich kann mir nur vorstellen, dass es so ist, wie vor der Geburt, und darüber können wir Lebenden ja nur eines sagen: nichts. Als Jugendliche habe ich gehofft, dass der Tod irgendwann dann mal ganz plötzlich und schmerzfrei eintritt. Heute erhoffe ich mir etwas Vorlaufzeit, nicht zu schmerzhaft, wenn möglich.
Viele Menschen denken, dass man als Pfarrerin einen mehr oder weniger versöhnten Umgang mit dem Tod pflegt. Das geht mir nicht so. Die Tatsache, dass wir alle irgendwann tot umfallen oder langsam in den Tod hinüber gleiten, erschüttert mich zutiefst. Dass wir nicht wissen, wann der Tod eintrifft, macht das Ganze nicht besser. Der Tod ist ständiger Begleiter des Lebens, vom Moment unserer Geburt. Oft höre ich ältere Menschen fast entschuldigend sagen: "Wenn man alt wird, macht man sich halt Gedanken zum Tod", als ob das ein Verbrechen wäre. Wenn es aber überhaupt ein Verbrechen in Sachen Tod gibt, dann doch, dass wir in jungen Jahren den Tod leichtfertig ausblenden und unsere Jungen nicht dazu ermuntern, sich damit auseinander zu setzen. Eher sagt man dann: "Du bist doch noch viel zu jung, um dir darüber Gedanken zu machen." Die Wahrscheinlichkeit, dass der Tod bald eintritt, ist im Alter zwar höher. Aber er geht genauso neben den Kindern, Jugendlichen und Mittelalterlichen her. Ich habe einmal eine Frau Mitte sechzig begleitet, die ihren Ehemann ganz plötzlich verloren hat. Die tiefe Erschütterung war dadurch noch verstärkt, da sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie Gedanken zum Tod gemacht hatte. Der Tod kam buchstäblich un-bedacht, ahnungslos, aus heiterem Himmel, platzte mit unvorstellbarer Brutalität ins Leben hinein. Entsprechend herausfordernd war dann auch der Umgang mit diesem plötzlichen Tod und war nur mit teilweiser Weitertabuisierung des Erlebten möglich.
Das Bewusstsein, dass wir nur ein Leben haben und dieses auf eine uns unbekannte Zeit beschränkt ist, gibt uns die Radikalität, mutig und aufgeschlossen zu leben, und unseren Mitmenschen Gutes zu tun. Die Auseinandersetzung mit dem Tod befreit uns zu Zuneigung und Mitgefühl. Sie befreit uns zum Hier und Jetzt. Die Gegenwart ist unser Handlungsspielraum, der einzige den wir haben. In der Gegenwart stellen wir die Weichen für das Morgen. Die Vorstellung, dass es uns dann vielleicht schon nicht mehr gibt, veranlasst uns dazu, Dinge anzupacken und öfters unsere Zuneigung zum Ausdruck zu bringen. Denn vielleicht können wir schon morgen nicht mehr "Ich liebe dich" sagen. Ja zur Liebe zu sagen, bedeutet Ja zu den Tränen des Abschieds zu sagen. Vielleicht fällt es deshalb so vielen Menschen schwer, sich auf die Liebe einzulassen (und damit meine ich nicht nur die romantische Paarliebe, sondern die Liebe zu unseren Nächsten ganz allgemein, zu den Eltern, Kindern und Freunden), weil wir bewusst oder unbewusst alle wissen: am Ende stehen immer die Tränen des Abschieds.
Befreiend wirkt die Auseinandersetzung mit dem Tod allerdings nur, wenn wir mit anderen offen darüber reden können, um die damit einhergehende Angst und den Schmerz zu teilen und gemeinsam auszuhalten. Während meines Studiums sass ich oft mit meiner sehr guten Freundin zusammen und wir haben uns stundenlang über Gott und die Welt, das Leben und den Tod unterhalten. Meine Freundin prägte den Satz: "Der Tod ist die Verarschung des Lebens." Darauf haben wir jeweils mit einem Bierfläschchen angestossen, die Musik aufgedreht und getanzt. Man erwartet von Theologinnen wahrscheinlich eine gewandtere Redeweise - aber auch uns bleibt zuletzt nur das Tanzen. (Pardon, Herr Calvin!)
Geschieht die Auseinandersetzung mit dem Tod nicht konstruktiv und offen, dann kann uns der Tod schon zu Lebzeiten lähmen. Wir handeln dann aus Angst oder gar nicht. Viele unserer Handlungen sind aus Angst geleitet. Man höre sich nur einmal die Reden unserer PolitikerInnen an. Heute wird hauptsächlich aus Angst politisiert und im gleichen Atemzug die Angst der Zuhörenden geschürt. Hinter der Angst vor dem Fremden, vor zu wenig Raum und zu wenig Ressourcen steckt ultimativ die Angst vor dem eigenen Tod. Würden wir gemeinsam dieser Angst ins Auge schauen und uns ihr stellen, dann könnten wir den Lebensraum und die verbleibenden Ressourcen mit allen teilen, statt sie krampfhaft an uns zu reissen, um unserer eigene Haut zu retten. Aber verrecken, das sollen die anderen. Wir wollen leben, um jeden Preis und über Leichen hinweg. Die unreflektierte Angst vor dem Tod steht der Gerechtigkeit Gottes im Wege, zu deren Umsetzung wir berufen sind.
In den Schweizer Alpen gibt es eine Sagengestalt, das Toggeli. Das Toggeli verhält sich gegenüber Menschen und Vieh bösartig und aggressiv. Es setzt sich dem Menschen auf die Brust, bis er nicht mehr atmen kann. Das Toggeli kommt manchmal auch hier in London vorbei, und es hockt gerade jetzt auf meiner Brust, wie ich diesen Blog schreibe. Das Toggeli ist ein fieser Zeitgenosse. Aber wenn es wieder weg ist, dann atme ich umso freier, weil ich weiss: jetzt darf ich leben, und ich bin zutiefst dankbar dafür.