Sie wurden beide 97 Jahre alt, und ich habe sie beide erst nach ihrem 90. Geburtstag kennengelernt. Beide sind sie im Verlaufe der letzten Wochen verstorben. Zwei betagte Frauen, die ich nie als alt wahrgenommen habe, trotz ihrer Gebrechlichkeit. Ruth und Agnes. Europäerinnen durch und durch, unabhängige Frauen, Wegbereiterinnen, Freigeister. Sie kannten sich nicht, aber ich kannte sie beide, und ihr Tod macht mich traurig und glücklich zugleich. Ich bin dankbar, dass ich sie kennen durfte.
Ruth und Agnes. Ihre Leben lassen sich nicht in einem Blog beschreiben. Ich war ja auch viel zu kurz Teil davon, als dass ich das könnte. In groben Linien gehen ihre Geschichten so:
Agnes, gebürtige Ungarin mit jüdischen Wurzeln, lebte in der Schweiz und später in England. Mit ihrem Mann konvertierte sie zum Christentum. Nach seinem recht frühen Tod fand sie wieder zu ihren jüdischen Wurzeln zurück, liess sich zur Psychoanalytikerin ausbilden und arbeitete noch gut dreissig Jahre auf diesem Beruf. Das strenge Christentum der Ehejahre wich einer liberaleren und spirituelleren Haltung, geprägt von den vielen Stationen ihres Lebens. Ich besuchte sie oft zuhause in ihrer Londoner Wohnung. Wir haben zusammen gelacht und diskutiert, über Europa, Frauenrechte und Religion. Es war jedes Mal eine Bereicherung, und ich war mir nie so ganz sicher, wer nun wen beseelsorgt hatte.
Ruth, gebürtige Schweizerin im Basler Missionshaus mit strengen Eltern. Hat durchgeboxt, dass sie als Mädchen Theologie studieren darf. Sie wurde ordiniert, arbeitete als Pfarrhelferin. Erst 1963 wurden Frauen ins Pfarramt zugelassen. Sie war eine der Ersten. Für Frauen galt bis in die 1980er Jahre das Zölibat. Amt und Haushalt, so hiess es, liessen sich nicht vereinbaren. Sie blieb ledig. Gründete das Ökumenische Forum Christlicher Frauen in Europa. Reiste von Ost nach West und West nach Ost über die Mauer hinweg, bildete Freundschaften und Netzwerke, die bis heute halten. Ich besuchte sie oft in ihrer Basler Wohnung. Wir haben zusammen gelacht und diskutiert, über Europa, Frauenrechte und Religion. Es war jedes Mal eine Bereicherung, und ich war mir nie ganz sicher, wer nun wen beseelsorgt hatte.
Diese 'Biographien' werden Agnes und Ruth nicht gerecht. Viel eher soll das hier eine persönliche Hommage werden an eine Generation Frauen, die es bald nicht mehr gibt. Sie waren die Vorkämpferinnen. Sie haben sich befreit, aus rigiden Elternhäusern und frauenfeindlichen Gesellschaftsstrukturen. Sie hatten Visionen und es gab nur einen Weg: den Weg nach vorne. Hindernisse waren dazu da, um überwunden zu werden. Sie sind weiter gegangen, ohne sich umzudrehen, haben aufs Dach gekriegt und sich wieder aufgerappelt. Das Leben begünstigte die Frauen nicht. Zimperlichkeit war keine Option. Es war ein individueller genauso wie ein struktureller und politischer Kampf. Alles war möglich, Veränderung war Alltag, und so blieben diese Frauen bis ins hohe Alter geistig flexibel und ausserordentlich tolerant.
Es ist jetzt an uns, dieses Erbe weiterzutragen. An den Schulen und Universitäten wird die Geschichte der Frauen nicht gelehrt. Das ist ja nicht so wichtig, denkt man sich. Die Emanzipation der Frauen, denken wir Jüngeren, ist ja heute selbstverständlich. Empanzipiert an den Herd zurück, das geht ja auch. Politik wird sowieso überbewertet. Isolationismus ist nicht nur ein Trend auf internationaler Ebene, sondern auch in unseren Privatleben. Die älteren Semester reiben sich zurecht verwundert die Augen. Die Weitsicht der weisen Frauen stirbt aus, und wenn wir uns nicht bald mal auf die Hinterbeine machen, dann können wir ihren Kampf noch einmal kämpfen. Den ganzen weiten Weg noch einmal gehen.
Lasst uns mutig sein und uns unbeliebt machen, in unserem Umfeld und darüber hinaus. Nicht immer dauernd von allen geliebt werden wollen. Agnes und Ruth und viele andere haben den Weg bereitet, manchmal ganz bewusst, manchmal so nebenbei. Gehen müssen wir ihn schon selber. Lasst es uns tun, bevor er total zugewachsen und ungebehbar ist. Denn das geschieht mit jedem Weg, wenn man ihn nicht pflegt.