Montag, 10. November 2014

Ist Prostitution ein notwendiges Übel?

Prostitution hat nicht in erster Linie mit Sex zu tun, sondern mit Käuflichkeit und Macht. Prostitution ist den Regeln des Marktes unterworfen: Nachfrage und Angebot. Prostitution ist eine weltweite Industrie, die Menschenhandel und Sklaverei fördert und bis weit in unsere Machtzentren hineinreicht. Sie beruht nicht auf Freiwilligkeit (obwohl auch hier die Einzelfälle die Regel bestätigen mögen), sondern auf Not und finanzieller und seelischer Ausbeutung. Solange es diese Industrie gibt, müssen die Frauen, die sich prostituieren, mit allen Mitteln geschützt und entkriminalisiert werden, damit sie die Chance zum Ausstieg und auf ein menschenwürdiges Leben haben. Aber es muss diese Industrie nicht geben. Eine andere Welt ist möglich, und ich bin deshalb davon überzeugt, weil ich weiss, dass Männer nicht per naturam 'so sind'. Das ist Quatsch. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren Frauen allen möglichen Geschlechterclichés unterworfen. Aber gesellschaftliche Reformen im Zuge der feministischen Bewegung haben gezeigt, dass Frauen nicht 'so sind'.

Ein Mann, der Frauen und sich selber wertschätzt, geht nicht zu Prostituierten, sondern befriedigt seinen sexuellen Drang anderweitig. Dazu braucht es nicht mal unbedingt eine Sexualpartnerin. Prostitution geht weit  über sexuelle Befriedigung hinaus. Hier geht es um Macht und Geld. Der Körper wird zur Ware degradiert und entbehrt jeglicher Menschlichkeit. Dass dies nicht einfach die Meinung einer Frau ist, zeigt die Aktion 'Männer gegen Prostitution' des internationalen Netzwerks 'Zeromacho'. Fast 2800 Männer aus 56 Ländern haben das Manifest mittlerweile unterschrieben. Sie wehren sich gegen diese 'extreme Form von Machismus' und gegen das damit verbundene Männerbild. Die selbstbewussten Männner lassen sich für die Aktion mit einem Schild "Fier de ne pas être client" ablichten. Einer der Protagonisten der Bewegung, Hans Broich, hat sich sogar für die Titelgeschichte der letzten EMMA fotografieren und interviewen lassen - mit der Unterstützung seiner Freundin, aber gegen den Ratschlag seines Vaters (das schade seinem Image). Auf die Frage, ob er sich nie überlegt habe, mal in ein Puff zu gehen, antwortet er: "Nein! Das ware für mich nie in Frage gekommen. Ich würde mich zu Tode schämen. Ich möchte keinem Menschen auf diese Weise begegnen." (EMMA Mai/Juni 2014) Ich vermute, dass viele der unterzeichnenden Männer keine Christen sind, und doch scheint mir, dass hier weit mehr am Gottesreich auf Erden gebaut wird, als in vielen christlichen Reihen, wo man vor weltlichen 'Tatsachen' kapituliert.

(Wer das Manifest unterzeichnen will: http://zeromacho.wordpress.com/le-manifeste_de/)

Bereits für Apostel Paulus ist der menschliche sexuelle Drang ein Thema (wie so oft auch hier auf Männer beschränkt). Er empfiehlt zwei aus seiner Sicht moralisch einwandfreie Lebensmodelle (siehe 1 Korinther 7). In Paulus' idealen Welt würden alle Männer alleine leben und ihren sexuellen Drang kontrollieren, damit sie sich auf das Wesentliche konzentrieren können, nämlich auf die Beziehung zu Gott und auf das Gemeindeleben. Weil Paulus aber weiss, dass Selbstdisziplin nicht allen Männern gegeben ist, empfiehlt er die Ehe als Alternative zum zölibatären Leben. Es sei besser, seine Schwäche anzuerkennen und Sexualität in einer Partnerschaft auszuleben, als sich einem unlauteren Lebensstil hinzugeben. Nach Paulus ist Sexualität eng mit Partnerschaft, Gegenseitigkeit und Respekt verbunden, auch wenn er hierbei etwas über das Ziel hinausschiesst, wenn er sagt: "Die Frau verfügt nicht selbst über ihren Leib, sondern der Mann; gleicherweise verfügt aber auch der Mann nicht selbst über seinen Leib, sondern die Frau." Paulus' moralisierendes und heterozentrisches Bild von Ehe hat viel Schaden angerichtet, und wir haben uns erst gerade auf den Weg gemacht, die Wunden zu heilen. Nichtsdestotrotz zeigt Paulus hier klar Haltung, und ich denke es geht nicht zu weit zu vermuten, dass sich Paulus im Korintherbrief auch gegen Prostitution als sexuelles Notventil richtet.

Frühchristliche historische Quellen berichten von brutaler mönchischer Selbstkasteiung. Die Mönche haben sich in der Nacht im Schnee gewälzt und sich selbst blutig geschlagen. Die Unterdrückung von Sexualität führt zu Gewalt, entweder gegen andere oder gegen sich selbst. Für viele Kirchen ist die Befriedigung sexueller Bedürfnisse bis heute nur innerhalb einer heterosexuellen Ehe moralisch vertretbar. Ausserehelicher und gleichgeschlechtlicher Sex sind genauso ein Tabu wie Selbstbefriedigung und es wird mit nichts geringerem als mit dem ewigen Fegefeuer gedroht. Die daraus resultierende Frustration kann sich nur in Gewalt entladen: entweder gegen andere oder gegen sich selbst, wie die mönchischen Quellen zeigen. Prostitution befriedigt nicht in erster Linie das Bedürfnis nach Sex, sondern das Bedürfnis, die Macht über den eigenen Körper zurückzugewinnen - durch die Ermächtigung über einen anderen Körper.

Wenn es um Prostitution geht, spricht man sofort von frustrierter männlicher Sexualität. Das soll als Grund herhalten, Prostitution zu rechtfertigen. Aber wie ist das eigentlich mit frustrierter weiblicher Sexualität? Darüber wird kaum geredet. Frauenlust und -körperlichkeit sind unangenehm (siehe auch meinen Blogeintrag 'Blutige Tatsachen') und werden bis heute von vielen Kirchen gnadenlos unterdrückt. Obwohl es Männer in der Prostitution gibt und auch Frauen Sex kaufen, und obwohl es dabei genauso sehr um Macht und Ausbeutung geht wie andersrum, so gibt es doch einen relevanten Unterschied: es hat sich nie eine Industrie herausgebildet, die das männliche Geschlecht systematisch zum Gegenstand degradiert, und das obwohl die weibliche Sexualität ungleich stärker unterdrückt wurde (und immer noch wird). Warum ist das so? Weil Frauen ihre aus Frustration und Abwertung resultierende Aggression eher gegen sich selber richten. Und weil es tief im gesellschaftlichen Unterbewusstsein verankert ist, dass Frauen das käufliche Geschlecht sind.

Hinter der Rechtfertigung von Prostitution steckt oftmals ein negatives Männerbild und die Kapitulation vor sogenannten 'Tatsachen'. Man wirft einer Feministin gerne vor, Männerfeindin zu sein. Ich habe das selber schon oft gehört. Es ist genau andersrum: ich liebe Männer, aus dem einfachen Grund, weil ich Menschen liebe und an das Gute in jedem glaube. Die nigerianisch-amerikanische Feministin Chimamanda Ngozi Adiche kennt diesen Vorwurf auch, und nennt sich deshalb: "Happy African Feminist Who Does Not Hate Men". Ja, ich liebe die Männer so sehr, dass in Rage gerate, wenn behauptet wird, dass Männer die Prostitutionsindustrie bräuchten, um natürliche Triebe zu befriedigen. So ähnlich hatte sich kürzlich der Präsident des Schweizerisch Evangelischen Kirchenbundes geäussert und damit die Prostitution gerechtfertigt. Ich finde ein solches Männerbild unfair und degradierend, und ich hoffe, dass sich meine Kollegen in der Schweiz gegen diese Rhetorik wehren. Ich wehre mich mit, so wie sich viele Männer bis heute für Frauenrechte wehren. 

Der berührende Film 'Pride' erzählt vom Schicksal der Minenarbeitern in Nord-England in den Achtzigerjahre, und wie diese unerwartet (und anfänglich unerwünscht) Unterstützung der Schwulen- und Lesbenbewegung in London erhalten. Einer der Protagonisten sagt: "What's the point of supporting worker's rights, but not gay rights. Or gay rights, but not women's rights." Unterdrückung ist die Absenz von Menschlichkeit und Mitgefühl. Es geht nicht darum, wer am meisten unterdrückt wird, sondern es geht darum, DASS unterdrückt wird.

Ich wehre mich für die Gleichstellung der Geschlechter, und dazu gehört das unumstössliche Recht der Männer, ihre eigene Wahl zu treffen und sich selbst sein zu dürfen. Männer wollen weinen dürfen. Männer wollen gute Familienväter sein dürfen. Männer wollen nicht immer stark sein. Männer wollen nicht in den Krieg ziehen. Oder wie Herbert Grönemeyer singt: "Männer haben's schwer, nehmen's leicht, außen hart und innen ganz weich, werd'n als Kind schon auf Mann geeicht. Wann ist ein Mann ein Mann?"

WEIL ich Männer wertschätze, bin ich überzeugt, dass eine Welt ohne Prostitution möglich ist. Prostitution ist nicht ein notwendiges Übel, das Männer brauchen, um friedlicher zu sein, und ihre Aggressionen zu zügeln. Dass der Wirtschaftszweig Prostitution als Geschäft der Erniedrigung nach wie vor floriert, zeigt lediglich, dass wir in Sachen Gleichstellung der Geschlechter noch einen weiten Weg vor uns haben. Immerhin: wir sind auf dem Weg. Viele Männer, die ich kenne und schätze, sind zärtlich, verletzlich und nachdenklich. Sie sind so, weil ihnen zugestanden wird Mensch zu sein und weil sie einen gesunden und freien Bezug zu Frauen und zu ihrem eigenen Körper haben. Sie müssen nicht andere unterdrücken, um der Welt und sich zu beweisen, dass sie harte Kerle sind. Diese Männer wehren sich denn auch gegen Prostitution, weil sie sich nicht mit dem degradierenden Männerbild identifizieren können, das mit Prostitution verbunden ist. Sie haben den Mut, Männlichkeit neu zu definieren.

Es ist nicht naiv, sich eine Welt ohne Prostitution vorzustellen. Wenn das so wäre, dann könnte ich meinen christlichen Glauben an das Reich Gottes auf Erden allgemein aufgeben. Dazu bin ich nicht bereit. Ich bin überzeugt, dass Menschen lernen können, sich selber und andere wertzuschätzen, und dass der Wunsch nach Partnerschaft und Zuneigung in allen Menschen angelegt ist. Es fängt damit an, dass wir uns gegenseitig zugestehen, uns selber zu sein, egal ob Mann oder Frau.

Die Prostitutionsindustrie ist nicht ein notwendiges Übel. Sie ist einfach nur ein Übel. Für Frauen UND für Männer. Aber vor allem für Frauen.

Wir Kirchen müssen uns selber in die Pflicht nehmen und endlich anerkennen, dass Geschlechtergerechtigkeit nicht nur eine Nebensache ist,  die Geld kostet, sondern die Grundlage für eine gerechte und freie Welt.




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