Freitag, 20. März 2015

Der Mann von der Strasse

Es ist zwei nach elf. Gerade greift der Organist zum ersten Akkord, als ich in der offenen Kirchentüre eine Gestalt erblicke. Der hagere Mann steht unsicher da und denkt sich wahrscheinlich: "Soll ich oder soll ich nicht?" Die schmutzigen Kleider hängen an seinem Körper. In seiner rechten Hand hält er eine Carlsberg Bierdose. Fast ein bisschen wie Jesus, minus die Bierdose. Ich gehe den Gang hinuter auf ihn zu und frage: "Do you want to join us for the service?" - "Yes" - "Come on in then, have a seat. You can leave your beer can on the coffee table and collect it after the service." Das macht er, und ich führe ihn zu den Stühlen. Er setzt sich neben Dorothea (Name geändert), eines unserer ältesten Kirchenmitglieder. Ob das nur gut kommt, denke ich mir noch, doch ich bin nun dran und lasse der Sache ihren Lauf. Ich begrüsse die Gemeinde und stelle dabei fest, dass sich Dorothea freundlich um den Mann kümmert, ihn begrüsst und unsere drei Liederbüchlein in die Hand drückt, die er sogleich sorgfältig studiert.

Der Gottesdienst beginnt mit einem stillen Gebet. In zwei Töpfen sind Domino-Steine, schwarze in einem, weisse im anderen. Wer will, kann nach vorne kommen und Steine auf ein Tuch legen: einen schwarzen für Dinge, die in der letzten Woche nicht so gut liefen, Frustrationen, Konflikte oder Enttäuschungen; einen weissen für die Dinge, die gut liefen und für die wir dankbar sind. Es kommt Bewegung in die Gemeinde und wir bringen Klage und Freude im stillen Gebet vor Gott. So auch der Mann von der Strasse. Er legt einen weissen und einen schwarzen Stein hin. Was er wohl erlebt hat? Dann geht er, statt an seinen Platz zurück, ins Foyer. Auf einen Schluck Bier.

Es ist Muttertag in England, und ich erzähle die Geschichte von den zwei ungleichen Müttern Hagar und Sara. Zur Einleitung rede ich vom Nomadenleben, und wie Abraham und Sara mit ihrem ganzen Haushalt von Ort zu Ort zogen. "Es gibt auch heute noch Menschen, die als Nomaden leben. Hat jemand ein Beispiel?" frage ich. Der Mann von der Strasse streckt auf und gibt eine Antwort. Ich verstehe ihn nicht. Keiner versteht ihn. Schliesslich gehe ich zu ihm hin, aber auch ganz nahe dran kann ich seine Worte nicht verstehen. Ich gehe zurück zum Mikrofon und sage: "Ja, auch Menschen hier in unserer Stadt sind Nomaden. Sie haben keinen festen Ort zum Leben und ziehen von Ort zu Ort." Der Mann von der Strasse nickt. Meine Intuition hat ins Schwarze getroffen. Dann steht er auf. Es ist wieder Zeit für einen Schluck Bier. Wieder zurück auf seinem Stuhl, hört er aufmerksam der Predigt zu, steht mittendrin nochmals auf und macht eine Runde durch die Kirche. Ruhig schaut er sich die alten Gedenktafeln an.

Während dem Orgel Zwischenspiel ist dann genug. Er steht auf, schnappt sich sein Bier und geht.

Am Nachmittag sage ich zu meinem Partner: "Als er rein kam und er sich neben Dorothea setzte, dachte ich nur: hoffentlich geht das gut und sie fühlt sich nicht gestört von ihm." Er erwidert: "Weisst du, ich denke wir unterschätzen oftmals die alten Menschen. Bei all dem, was die in ihrem Leben schon erfahren haben, braucht es wohl ein bisschen mehr, um sie aus der Fassung zu bringen." Sehr wahr. Dorothea hatte als Mädchen während der Bombardierung Londons im U-Bahn Schacht geschlafen. Da wird sie sich von einem Mann von der Strasse mit fleckigen Kleidern und einer Bierdose in der Hand ja wohl nicht aus dem Konzept bringen lassen. Hat sie ja auch nicht.
 
 
 
 

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