Freitag, 27. September 2013

Die Pringle's Dose an der Handorgel

Ich beschreibe ja gerne Szenen aus dem Alltag. Hier ist eine aus der U-Bahn:

Auf dem Weg zur Arbeit, der mich jeden Tag in die Tiefen des verschlungenen Londoner U-Bahn Systems nach Covent Garden fuehrt, sassen heute zwei junge Touristinnen neben mir. Die eine Frau benutzte ihre Smartphone-Kamera, um ihre Lippen mit einem scheinbar neuen pinken Lippgloss zu bemalen. Sie hielt ihn ihrer Freundin mehrmals zum Beschnuppern hin. Gegenueber sassen drei nur wenig aeltere Kopftuchtraegerinnen, wahrscheinlich ebenfalls Touristinnen oder Austauschstudentinnen, die sich sichtbar ueber das oeffentliche Schminken unterhielten - leider in einer mir unbekannten Sprache. Des Weiteren sass da eine mittelalte Kopftuchtraegerin mit sehr traurigen Augen, wahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit.

Am Russell Square stieg ein Handorgelspieler zu, eine kleine leere Pringle's Dose ans Instrument geklebt, um Almosen fuer seine musikalische Einlage zu sammeln. Ich war als erste dran, und wie immer war ich hin- und hergeworfen zwischen meinem Herzensinstinkt, den jungen Mann zu unterstuetzen, und meiner Ratio, die mir sagt, dass ich damit die missstaendlichen Strukturen, die halb oder ganz illegale Lebenslagen erst hervorbringen, indirekt unterstuetze. Ich habe mich fuer die Ratio entschieden.

Alle vier Frauen mit Kopftuch haben grosszuegig in die Pringle's Dose geworfen. Alle Nicht-Kopftuchtraegerinnen haben den Kopf geschuettelt und die Augen gesenkt (wohl mehrheitlich nicht aus innerer Zerrissenheit). Diese kleine Alltagsszene hat mir wieder einmal bewusst gemacht, wie gross die kulturellen Unterschiede im Mikrokosmos U-Bahn, Abbild unserer Gesellschaft, sind.

Ich weiss noch immer nicht, was die richtige Entscheidung ist ---

Dienstag, 10. September 2013

Gewöhnungsbedürftig


ö ä ü

An gewisse Dinge gewöhnt man sich. Zum Beispiel daran, die Umlaute zum Verfassen eines Blogeintrags aus dem Word zu kopieren. Clever, nicht? Man gewöhnt sich auch daran, dass die Menschen ziemlich konsequent Schweiz und Schweden verwechseln. So heute wieder auf dem Zahnarztschragen:

"Is dental treatment more expensive in Switzerland?" - "Probably, yes, but it's covered by the health insurance." - "Most things are more expensive in Scandinavia." (Und bevor ich etwas erwidern kann, machte sich der Laserstrahl ans Zertrümmern meines Zahnsteins.)


An gewisse Dinge kann man sich so halb gewöhnen. Zum Beispiel daran, dass man die zahnärztliche Kontrolle und die Dentalhygiene aus dem eigenen Portemonnaie zahlt. (Und wem haben wir es zu verdanken? Maggie Thatcher!)

"£100 please, Miss." (Karte rein, Code eintippen, 150 Franken weg)


An gewisse Dinge kann man sich nicht gewöhnen . Zum Beispiel die Frage aus der Gemeinde, ob denn in meinem Wohnviertel nicht "many Arabs" leben würden? Dass die Frage in der Schweiz hin und wieder mal auftaucht, ja daran habe ich mich (leider) gewöhnt. Wie den Wahl-LondonerInnen der Mix der Kulturen in London aber überhaupt noch auffallen kann, das ist mir ein Rätsel.


Für Prayer&Pub habe ich mich übrigens auf den richtigen Ratschlag verlassen. Wir haben zu viert einen sehr schönen Abend verbracht, im meditativen Gebet und im Pub. Ich habe keine Zweifel, dass sich diese 'fresh expression' etablieren wird.

Donnerstag, 5. September 2013

"Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen sind..."


Heute starte ich etwas Neues. Die Veranstaltung heisst Prayer&Pub, findet jeden Donnerstag Abend statt und haelt genau das, was sie verspricht: erst wird gebetet, dann geht's ins Pub.

In zwei Stunden ist es soweit. Und wie immer, wenn man etwas Neues einfuehrt, fragt man sich: kommen da wohl ueberhaupt Leute? Habe ich das jetzt nur fuer mich alleine vorbereitet? Ist 18 Uhr vielleicht zu frueh? Und traue ich mir es wirklich zu, einen Taize Song einzufuehren, mit dem Risiko, dass den keiner kennt und auch niemand Franzoesisch aussprechen kann?

Zum Glueck aber begleiten mich in solchen Momenten die weisen Worte meines Lehrpfarrers Christoph Semmler. Als ich einmal einen Gemeindeabend mit Musik, Lesungen, Filmprojektion und naechtlicher Meditation in der Kirche Heiligkreuz plante, plagten mich die gleichen Fragen: da kommt keiner, das wird ein Flop, so peinlich. Worauf mich Christoph fragte: was kann den passieren? was wuerdest du als 'Flop' definieren? Worauf ich sagte: weniger als zehn waere ein Flop. Worauf er nur lachte und sagte, dass bestimmt zehn Personen da sein werden. Es waren dann mehr.

Als ich mein Prayer&Pub der Kirchenpflege der Swiss Church in London schmackhaft machen wollte (die uebrigens sehr offen fuer meine Initiativen ist und mich meistens unterstuetzt), meldete sich einer der Kirchenpfleger mit der Anmerkung: das wuerde er jetzt aber langsamer angehen. Er zweifle, ob sich da TeilnehmerInnen finden lassen wuerden. Worauf ich, ganz cool Christoph zitierend, erwiderte: was kann denn Schlimmes passieren? Wenn ich alleine bin, dann bete ich halt alleine.

Heute fuehre ich den Abend also zum ersten Mal durch. Und morgen werde ich wissen, ob ich mir den richtigen Rat zu Herzen genommen habe.

Obwohl, ein paar weitere Versuche werde ich mir sicher noch geben...