Sonntag, 24. September 2017

Fuck you, Harald!

Ich habe einen Harald, der wohnt tief in meinem Inneren. Eigentlich habe ich schon immer gewusst, dass der da hockt. So richtig bewusst wurde mir das aber erst, als ich kürzlich in der EMMA den Artikel “Was hat Harald gegen Medienstudien?” der Welt-Redakteurin Hannah Lühmann gelesen habe. Sie beschreibt ihren Harald so: “Tief in meinem Inneren haust ein Mann. Ich glaube, seine Hautfarbe ist weiss, meistens ist er nett, aber manchmal hat er auch schlechte Laune. (…) Dieser mein innerer Seelenmann ist nicht bösartig, ich glaube, er würde sogar von sich selber sagen, dass er Feminist ist.” (EMMA September/Oktober 2017, S.33). Hannah Lühmann beschreibt, wie sie ihren inneren Seelenmann Harald dabei ertappt, wie er der Meinung eines Mannes mehr Bedeutung beimisst als seiner Diskussionspartnerin. Obwohl der Mann seiner Gesprächspartnerin mit seinen subversiven Fragen ganz offensichtlich die Argumentationsgrundlage entzieht und sie in die Verteidigungsposition drängt, sympathisiert der Harald in Hannah mit diesem Mann und findet ihn ganz schön schlagfertig. Sie muss sich selber daran erinnern: “Harald, reiss dich zusammen! Hör dir lieber mal an, was die Frau zu sagen hat!”  

Als Teil meiner Vikariatsausbildung, also der Ausbildung zur Pfarrerin, habe ich Primarschüler und -schülerinnen unterrichtet. In den Schulstunden kam hin und wieder ein Ausbilder, um meine Lektionen danach mit mir zu besprechen. Einige der Jungs waren richtige Krawallbuben und haben mit allen Mitteln versucht, den Unterricht zu stören. Sie waren auch anderen Lehrpersonen bekannt, und so war eines meiner pädagogischen Lernfelder, ein tragbares Klima im Klassenraum zu schaffen. Einmal standen wir im Halbkreis vorne im Klassenraum und haben etwas besprochen. Wie das oft der Fall ist bei Jungs und Mädchen, haben sich die Mädchen auf die eine Seite gestellt, während die Jungs sich den Mädchen gegenüber gruppiert haben. Einige der Jungs waren unruhig und haben provoziert. Die Diskussion lief einigermassen, aber es war harzig, ein gutes Gespräch in Gange zu bringen. Die interessierten und engagierten Schülerinnen und Schüler kamen mal wieder unter die Räder. 

Nach der Lektion hat der Ausbildungsleiter zu mir gesagt: “Mir ist aufgefallen, dass du dich zwischen die Mädchen gestellt hast und dein Fokus darauf lag, dich mit den Jungs zu unterhalten. Warum hast du dich nicht zwischen die Jungs gestellt und das Gespräch mit den Mädchen gesucht? Du hast den Jungs viel zu viel Autorität zugesprochen.” 

“Harald, reiss dich zusammen! Hör dir lieber mal an, was die Mädchen zu sagen haben!” Genau so ein Moment war das! Der Ausbilder hat in meinem Unterbewusstsein etwas wach gerüttelt. Seither wusste ich um meinen Harald. Hannah Lühmann hat mich erneut auf meinen inneren Seelenmann aufmerksam gemacht und es ist einmal an der Zeit, über ihn zu schreiben.

Ich bin Feministin, weil mich die Welt etwas angeht und nicht am Gartenzaun aufhört. Die grosse Mehrheit der Frauen dieser Welt sind sexualisierter Gewalt, Unsichtbarmachung und Rechtlosigkeit ausgesetzt. Weil sie Frauen sind. Also weil sie Menschen sind, die mit einer Gebärmutter und Brüsten ausgestattet sind, statt mit einem Penis. Wer sich angesichts dieser höchst absurden Sachlage nicht als Feminist oder Feministin bezeichnet, denkt nicht über den eigenen Tellerrand hinaus. So ist das einfach. Ich bin für Gendergerechtigkeit, weil es mich total nervt, dass ich zwar in einem aufgeklärten Land lebe, wo Männer und Frauen vor dem Gesetz gleich sind, aber ich immer noch in erster Linie aufgrund meines Geschlechts wahrgenommen werde, und nicht einfach zuerst mal als Mensch. Das Einstehen für Gendergerechtigkeit ist notwendig, weil die Autorität von Frauen an allen Ecken und Enden angefochten und untergraben wird und mich das einfach ankotzt. Viel zu viele Frauen sind vom Gender Pay Gap und von der Teilzeitfalle betroffen und deshalb bei einer Scheidung und im Rentenalter einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt. Wer sich nicht empört, hat nichts begriffen!  

Ich bin Feministin und ich stehe für die Menschlichkeit, aber sag das mal dem Harald. Der findet nämlich schon öfters mal, dass das Wort eines Mannes irgendwie mehr Gewicht hat. Der wacht immer mal wieder auf und hört den Männern in der Runde so unverschämt geduldig zu. Der kämpft um die Anerkennung von Männern in wichtigen Positionen. So einer ist der Harald in mir. Schliesslich bin auch ich Tochter einer Generation, wo die Männer noch das Sagen hatten, das politische Tagesgeschäft bestimmten und die grossen Reden schwangen, während die Frauen für Haus und Heim verantwortlich waren - ja nicht mal an die Urne durften! So hat der Harald sich auch automatisch in meiner DNA festgesetzt. 

Und eigentlich hat der Harald in mir ja ganz recht. Wenn man etwas durchkriegen will, dann sollte man sich die Unterstützung eines Mannes suchen. Wenn die eigene Autorität angekratzt ist oder aberkannt wird, dann ist männliche Rückendeckung gold wert. Die Chancen sind einfach besser. So funktioniert unsere Welt. Und mein Harald ist genau so gebürstet. Harald, du nervst. 

Es ist eigentlich schon unglaublich. Ich bin seit Jahren ehrenamtlich aktiv im Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Europa. Das ist ein Netzwerk von Frauen aus über dreissig europäischen Ländern und mit unterschiedliche konfessionellen Hintergründen. Gerade kürzlich hatten wir eine Diskussion über die dringendsten Themen für Frauen in der heutige Zeit. Fast ausschliesslich ging es dabei um das Untergraben von Autorität und das Unsichtbarmachen von Frauen. Eine Frau aus Moldawien hat erzählt, wie sie die ganze Sozialarbeit ihrer Kirche (unbezahlt!) organisiert und die Priester aus dem ganzen Bezirk bei ihr Rat und Unterstützung abholen, ohne dass sie dafür jemals die ihr zustehende Anerkennung kriegt, geschweige denn zur Synode eingeladen wird. Die Diskussionsrunde war frustrierend und hat mich nicht mit Zuversicht gefüllt. Frauen, die ich stets dafür bewundert habe, wie sie scheinbar locker ihren ‘Mann’ stehen, natürliche Autorität ausstrahlen und diesem Zirkus scheinbar locker Stirn bieten, haben im Frauenkreis ausgepackt und von ihrer Ohnmacht und Frustration erzählt. 

In diesem Frauenforum habe ich zwei Sachen gelernt: Fundraising zu betreiben und einen Film zu produzieren. Dank meinen erworbenen Fähigkeiten im Fundraising steht die Swiss Church in London heute finanziell gut da, obwohl der Kirchenbund der Londoner Kirchgemeinde den Geldhahn zugedreht hat. Es ist einem Netzwerk von Frauen zu verdanken, dass die Swiss Church gut über die Runden kommt. Da wird nicht ständig von Umstrukturierung gelabert, sondern gehandelt. Ja nämlich, Harald. Schreib dir das mal hinter die Ohren. 

Was können wir tun, um eine Welt zu erwirken, in der die Leistung von Frauen und Männern als gleichwertig anerkannt wird und Autorität nicht vom Geschlecht abhängt? 

Als ersten Schritt empfehle ich unverzüglich Kontakt mit dem inneren Seelenmann aufzunehmen, der da hockt und das Spiel mitspielt, das so vielen von uns, Frauen und Männern, schon lange auf den Keks geht. Sucht mal das Gespräch mit eurem Harald. Lernt ihn zu bändigen, wenn er mal wieder den Worten von Männern mehr Gewicht beimisst und so fürchterlich anerkennend nickt. Stellt euch einmal die Frage, wie viel Anerkennung ihr eigentlich den Frauen zukommen lässt, die euch entscheidende Fertigkeiten beigebracht und euch gefördert haben. Und wenn der Harald mal wieder den eloquenten und bestimmten Mann so toll findet und nach seiner Anerkennung lechzt, dann sagt laut und deutlich: Fuck you, Harald! Hör dir lieber mal an, was die Frau zu sagen hat!

So fängt Gendergerechtigkeit an. 




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