Oft werde ich gefragt, was eigentlich Sinn und Zweck von Kirche ist und weshalb um Himmels Willen sich Menschen am Sonntag im Namen eines Gottes, dessen Existenz wir nicht beweisen können, in Kirchen versammeln. Und manchmal frage ich mich selber, weshalb wir das eigentlich tun.
Tage wie heute sind die Antwort.
Fünf Tage vor Ostern haben wir uns verabschiedet von einer 95-jährigen Frau, die fast 90 Jahre lang Mitglied der Schweizer Kirche in London war und kaum einen Sonntagsgottesdienst ausgelassen hat. Sie kannte siebzehn Pfarrer und Pfarrerinnen der Schweizer Gemeinde in London, durchlebte die Schrecken des Blitzkrieges 1940 und erlebte Veränderungen, die viele von uns nur noch aus Geschichtsbüchern kennen.
Die einzigen nahen Verwandten der Verstorbenen waren ihr Bruder und dessen Ehefrau. Sie war selber nie verheiratet und hatte keine Kinder. Und doch: an ihrer Beerdigung waren rund 60 Menschen, berührt, erschüttert, traurig Abschied nehmen zu müssen. Diese Menschen verloren nicht nur ein Gemeindemitglied und eine Freundin, sondern eine Schwester. Keine Blutsverwandte, sondern eine Schwester in Christus. Sie war nicht allein.
Wenn ich sonntags vom Pfarrhaus mit der U-Bahn in die Schweizer Kirche in Covent Garden fahre, dann bin ich oft etwas gestresst, frage mich, ob meine Predigt ausgereift genug ist und ob Gott überhaupt zuhört, wenn wir zusammen beten. Doch es vergeht kein Sonntag, an dem ich nicht aus der Kirche trete und weiss: ich bin Teil einer Familie. Die Sorgen sind stets unbegründet, und sobald wir als Gemeinde zusammen sind, ist auch Gott irgendwie da. Wir kennen einander, alt und jung, wissen, was uns plagt und freut, lachen und weinen miteinander und regen uns manchmal fürchterlich übereinander auf. Warum sollte es auch anders sein, als mit unseren Blutsverwandten? Doch wir wissen: wenn es darauf ankommt, dann sind wir füreinander da.
Mir scheint einem Grossteil meiner Generation ist die Bedeutung von Gemeinde abhanden gekommen. Viel zu oft dreht sich die Frage darum, ob es denn diesen Gott nun eigentlich gibt oder nicht, und der Gang zur Kirche scheint erst dann angebracht, wenn man diese Frage endgültig für sich geklärt hat. Doch Anteil haben am Gemeindeleben, das einen durch Hochs und Tiefs bis ans Lebensende tragen kann, beginnt nicht mit der Glaubensfrage. Sie beginnt mit der Teilhabe an und dem Mittragen von Gemeinschaft. Dazu muss man erstmal gar nichts glauben, sondern lediglich da sein, sich auf andere einlassen und sich Zeit nehmen. Zeit, die wir nicht zu haben meinen oder die wir uns nicht nehmen wollen.
Der Glaube an Gott? Der kommt vielleicht - vielleicht auch nicht, und auch wenn er nicht kommt, so kann man sich getrost tragen lassen von der neuen Familie. Vielleicht berührt einen die Musik, ein gesprochenes Wort, eine Geste oder das flackernde Licht der Osterkerze. Oder manchmal sitzt man auch einfach nur da, leicht gelangweilt, erkundet den Kirchenraum mit den Augen, hängt seinen eigenen Gedanken nach oder hält ein kleines Schläfchen. Das ist doch auch schon was. Manche sitzen im Gottesdienst aus einem tiefen Bedürfnis, zu Gott zu beten, andere weil sie aus Inbrunst singen können. Wieder andere sitzen da, weil es danach ein Zmittag oder Chilekafi gibt und man sich mit seinen Schwestern und Brüdern unterhalten kann, oder fetzen, oder einfach nur schweigen, ohne dabei allein zu sein. Was auch immer uns im Herzen bewegt, wir sind da, weil Sonntag ist und die Kirchenglocken läuten und weil Menschen seit Jahrtausenden am Sonntag zusammenkommen.
Wir bringen betagten Menschen Kuchen nach Hause, spielen Eile mit Weile und trinken zusammen Tee. Wir gehen ans Krankenbett, singen Kirchenlieder im Spital und halten den Sterbenden die Hand. Wir schreiben einander Postkarten aus den Ferien und kochen für Fremde zu essen. Wir rufen an, um zu fragen wie es geht und singen Happy Birthday zum Geburtstag. Wir freuen uns über jedes neugeborene Kind und schenken selbst gestrickte (oder gekaufte) Socken zur Geburt. Kinder werden zu Jugendlichen, dann zu Erwachsenen und schliesslich zu alten und betagten Menschen. Manchmal verliert man sich aus den Augen, doch nie aus dem Sinn.
Deshalb versammeln wir uns am Sonntag im Namen Gottes, dessen Existenz wir nicht beweisen können, in der Kirche. Das macht doch Sinn, oder?
Mit oder ohne Auferstehungsglaube, ich wünsche euch frohe Ostern und fröhliches Zusammensein mit euren Familien!
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