Donnerstag, 13. April 2017

Von der Reformation zur Deformation

Ich bin eigentlich eine stolze Reformierte, besonders seit ich nach England übersiedelt bin. Wir gehören hier zum liberaleren Spektrum der christlichen Religionsgemeinschaften und viele Bekannte staunen, dass ich so skeptisch und weltbezogen predigen darf, ja sogar in meiner Ausbildung dazu ermuntert wurde. Es wird gestaunt über die basisdemokratische Entscheidungsstruktur in unserer Gemeinde und über die flache Hierarchie ohne Bischöfe und Pomp. Es wird gestaunt, dass ich offen über meine Zweifel an der Auferstehung sprechen darf und dass ich die Bibel mit einem historisch-kritischen Blick lese. Und überhaupt, dass eine junge Frau mit säkularem Lebensstil Pfarrerin sein kann! Ich spreche offen über meinen Glauben und über meinen Beruf, mal ernsthaft, mal mit Humor, im Taxi, im Pub, beim Picknick im Park und bin stets offen für Glaubensgespräch, und gleichzeitig vertrauen mir meine agnostischen, zweifelnden, andersgläubigen Bekannten, dass ich sie nicht mit unlauteren Mitteln bekehren will. Mein ultimatives Ziel ist es nicht, dass sie am Sonntag zur Predigt aufkreuzen (auch wenn es mich natürlich freut). Gott trifft man ja nicht nur in der Kirche an.

Die reformierte Theologie hatte mir von Anfang an gefallen, weil sie so weltoffen, ja gar aufrührerisch und allemal kritisch ist. Keine Frage war dumm im Studium, und meine Erkenntnis, dass das Alte Testament das ohne Jesus und das Neue Testament das mit Jesus ist, wurde von meinen ProfessorInnen nicht belächelt, sondern eher als Chance für eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit dem Christentum gesehen. So hat mein Professor für Altes Testament einmal zu mir im Pendlerbus zur Unitobler gesagt: "Ja Frau Maurer, Sie haben zwar eine grosse Klappe, aber es steckt auch was dahinter." An dieser Stelle: Danke, Herr Dietrich, das Kompliment wirkt bis heute!

Reformiert sein ist toll, man kann debattieren, das Undenkbare denken, frech sein und Kritisches fragen. Man kann am Abendmahl teilnehmen, so wie man ist, ohne Bussbekenntnis und ohne Taufe, Kinder und Erwachsene (auch wenn hier die Meinungen unter Reformierten durchaus auseinander gehen). Der Blick zurück stellt uns auf die Seite der Aufmüpfigen gegen staatliche und kirchliche Autoritäten. Unsere Vorfahren haben sich gewehrt.

Das Reformiert sein wird zelebriert dieses Jahr landauf, landab, und es kann uns richtig warm ums Herzen werden. So toll sind wir!

Doch meine stolze reformierte Fassade wird gerade brüchig, und das ausgerechnet im Reformationsjahr. Es ist mir unwohl, wie wir Reformierten, ganz wie die evangelischen Brüder und Schwestern in den Nachbarländern, das tolle reformierte Erbe zelebrieren. Im Fahrwasser der Feierlichkeiten lerne ich nämlich Dinge, die ich entweder bisher ausgeblendet habe oder die mir nie zugetragen wurden. Schreckliches, Unverzeihliches, Ohnmächtiges. Frauenklöster, nicht nur aber auch ein Ort der Freiheit, Selbständigkeit und Bildung für viele Frauen, wurden aufgelöst und als Alternative die Rolle der gebärenden Pfarrgattin zementiert.

Schreckliches wurde Frauen angetan. Frauen mit unehelichen Kindern mussten im 17. Jahrhundert mit schweren Strafen rechnen und wurden bei sogenannten moralischen Vergehen oft von ihren Kirchgemeinden an die staatlichen Behörden ausgeliefert. So wurde 1644 eine junge Frau verurteilt, in Ketten gelegt und gestreckt, weil sie mit einem unehelichen Kind schwanger war. Eine schwangere Frau! Gestreckt! Als ich davon in der Bref las (No 4/2017), musste ich mich fast übergeben.

Ich wusste natürlich, dass die Reformatoren in Zürich und Bern sich nicht gegen die staatliche Verfolgung der TäuferInnen gewehrt, ja auch selber bis ins 17. Jahrhundert an deren Verfolgung teilgenommen haben. Das Ausmass aber dämmert mir erst jetzt so langsam: die lange Zeitspanne und die Tausenden von Verfolgten und Toten. Zu radikal, zu eigen, zu staatskritisch. Um sich von der anfänglichen aufrührerischen Bewegung zu einer anerkannten landeskirchlichen Institution zu mausern, musste sich die reformierte Hauptströmung von ihren radikalen Mitgeschwistern abwenden und mit den Behörden einen Bund schliessen. Mit dem sensiblen Portrait über die Täufervergangenheit des Samuel Geiser hat die Zeitschrift Bref einen weiteren wichtigen Beitrag zu meiner Desillusionierung geleistet.

Ich gehöre der Gewinnerseite an. Ich bin eine Nachkommin der Verfolger und Unterdrücker. Bis ins hinterste Tal haben meine Vorfahren die Täufer verfolgt. Gegen Frauen und Männer sind sie unbarmherzig vorgegangen, haben Menschen wegen ihrer Glaubenshaltung getötet, etwa weil sie sich geweigert haben, Kleinkinder zu taufen.

Es scheint mir, als hätten wir Reformierten nicht viel gelernt aus unserer Geschichte. Wir zelebrieren das Erbe der Gewinnerseite und stellen uns als die tolerante, weltoffene und kritische Kirche dar. Wir gesellen uns weiterhin gehorsam auf die Seite der Mächtigen, um von ihrem Glanz etwas abzukriegen. Grosse ökumenische Gottesdienste mit Würdenträgern sind das Highlight dieses Jahres, und die Einladungskarten sind heiss umkämpft. Man will sehen und gesehen werden. Schaut, wie toll wir sind! Wir machen es genauso, wie wir das schon vor 500 Jahren gemacht haben: wir wollen nicht zu viel verlieren und Ehrengäste sein.

Gerade zum Jubiläum sollten wir unsere Haltung doch korrigieren und uns demütig und radikal zeigen. Wir sollten uns auf die Seite der Verfolgten stellen, Kopf und Kragen riskieren und an die Orte gehen, wo Schreckliches passiert ist, statt in die pompösen Kathedralen dieser Welt. Wir sollten die Häuser der damals und heute Verfolgten aufsuchen und ihnen das Wort geben, statt den staatlichen und religiösen Würdenträger und Gelehrten. Einige Pfarrhäuser, Kirchgemeinden und Medien tun dies, wagen etwas, provozieren, stellen sich quer. Von offizieller Seite wird dazu meist diplomatisch geschwiegen.

Dieses Jahr hat mich schon jetzt deformiert und gerade deshalb vielleicht erst recht reformiert.