Montag, 15. Mai 2017

Was Wäre Wenn...

Ich bin 36 Jahre alt, bald 37, und seit über einem Jahr verheiratet. In den Monaten nach unserer Hochzeit waren die Aussagen noch explizit und fadegrad: "Wenn ihr dann mal Kinder habt...". Mittlerweile sind diese Stimmen verstummt und haben sich verwandelt in wortlose Blicke und, wie ich vermute, Vermutungen. "Können sie vielleicht nicht...?" "Probieren sie wohl...?" "Ah, sie trinkt keinen Wein. Vielleicht...?" Ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich extra Alkohol trinke, auch wenn mir null danach ist, einfach um die Sachlage implizit klar zu stellen. Ich glaube mir manchmal selber nicht, wenn ich sage: "Heute nur Cola, ich bin verkatert/erkältet/muss morgen früh raus", obwohl das absolut der Wahrheit entspricht. Weite Pullis vermeide ich. Als verheiratete Frau im gebärfähigen Alter hängt die Kinderwolke ständig über mir und meine öffentliche Rolle im kirchlichen Umfeld trägt das ihre zur Verschärfung der Lage bei. Die Pfarrerin sollte doch jetzt eigentlich Kinder produzieren. 

Das ist anstrengend.

Natürlich beschäftigt mich die Frage, auch wenn ich gegen aussen so tue, als existiere die biologische Uhr für mich nicht. Sie tickt wie ein nerviger Tinnitus ständig in meinem Ohr.

Die Antwort ist: ich weiss es einfach nicht. Ich habe noch nie zu den Menschen gehört, für die Kinderkriegen unbedingt zum Lebenslauf dazu gehört. Ich verspüre kein überwältigendes Bedürfnis einmal schwanger zu sein, noch die Strapazen einer Geburt zu erleben, schlaflose Nächte zu haben und meinen spontanen Lebensrhythmus kindergerecht einzutakten. Als Pfarrerin verbringe ich viele meiner Tage damit, jungen und alten Menschen meine Zuneigung und Fürsorglichkeit zu schenken, also gewissermassen 'mütterlich' zu sein. Das erfüllt mich und gibt meinem Leben einen weiten Sinn, der weit über das Private hinausgeht. Mein Leben ist nicht in Arbeitswelt und Privatwelt eingeteilt, obwohl die verschiedenen Beziehungen und Tätigkeiten natürlich ihren je eigenen Platz haben.

Versteht mich nicht falsch: ich bin überzeugt, dass das Über- oder Erleben einer Geburt ein absolut unbeschreibliches Gefühl sein kann (obwohl ich den posttraumatischen Stress, der eine Geburt auslösen kann, auf keinen Fall unterschätze). Ich kann mir schon vorstellen, dass wenn man dieses kleine Bündel Leben mal in der Hand hält, dass man dann nie mehr ins Vorher zurück will. Ich bin überzeugt, dass dieser intensive Liebesbund mit dem eigenen Kind ein Gefühl ist, das einen umwirft und das man nie mehr missen möchte. Ich sehe es in den Augen meiner Nächsten, wenn sie ihre kleinen Wonneproppen knuddeln und herzen und denke mir: "Wie toll muss das sein!" Manchmal bin ich ein klein bisschen eifersüchtig. Ich möchte das auch. Welches Herz kann sich den Liebesschwingungen einer innigen Elter-Kind-Beziehung schon entziehen! Ich mag dieses Gefühl der Verbundenheit jedem Elter von Herzen gönnen. Ich höre und schaue Eltern total gerne zu, wenn sie von ihren Kindern reden oder mit ihnen spielen. Ich spiele sehr gerne mit Kindern und bin fasziniert von ihrer Welt. Taufgottesdienste gehören mit zu den schönsten Aspekten meines Berufes. Es ist herzerwärmend. Und ich bin überzeugt, mein Herz würde genau an diesem Ort auch für meine eigene Kinder pumpen und nie mehr zurück wollen.

Aber: Ich vermisse es nicht. Vermissen kann man nur, was man kennt.

Eine Familie zu gründen braucht Mut. Unterschätzt wird oft, dass es genau so viel Mut braucht, wenn nicht sogar noch mehr, es mit Kindern gar nicht erst zu versuchen. Mit der Aussage "Ich will keine Kinder" stösst man die Mitmenschen oftmals vor den Kopf, weshalb sich vor allem Frauen ohne Kinderwunsch oder mit Zweifeln in einer Tabuzone bewegen. Wenn man seine Zweifel ausspricht, dann muss man oft mit Reaktionen rechnen, die jegliche hilfreiche Diskussion sofort abwürgen:

"Ich habe Freunde, die sich gegen Kinder entschieden haben. Sie bereuen das heute total."

"Man versteht das Leben erst richtig, wenn man Kinder hat."

"Denk bloss nicht zu viel darüber nach. Mach einfach. Mit zunehmenden Alter wird das immer schwieriger..."

"Wer schaut denn im Alter zu dir?"


Stellen wir uns umgekehrt einmal vor, wir würden den Kinderwunsch oder eine Schwangerschaft ähnlich kommentieren: "Habt ihr euch das auch gut überlegt?" - "Ich habe von Eltern gehört, die sich im Nachhinein nicht mehr für Kinder entscheiden würden." - "Und wenn den Kindern mal was zustösst?"

Der Übergang vom Paar- zum Familienleben ist in meiner Altersgruppe natürlich ein grosses Thema. Junge Väter und Mütter werden gefragt, wie sie mit der Umstellung klarkommen. Was oft vergessen geht, ist dass auch die Unentschiedenen an diesem Übergang stehen, und diejenigen, die keine Kinder haben können. Das Leid der ungewollten Kinderlosigkeit ist gross und es ist oftmals ein langer und beschwerlicher Versöhnungsweg mit den eigenen Wünschen und dem eigenen Leben. Aber auch der Weg der Unentschlossenheit ist kein leichter. Die konfuse und komplexe Angelegenheit der Kinderfrage ist ständige Begleiterin. Der Zeiger schlägt mal auf diese Seite, dann auf die andere Seite aus und vollzieht manchmal wilde Tänze in der Mitte. 

Vor der Was Wäre Wenn Frage sind wir alle nicht gefeit. Einige Menschen neigen eher dazu als andere. Das kann sich irgendwann in einer ausgeprägten Mid Life Crisis zeigen oder einfach beim Rückblick aufs eigene Leben im Alter, auf das Erfüllende und das Bedauerliche. Beides gehört dazu. Die Was Wäre Wenn Frage gehört zum Menschenleben dazu und wir wissen jetzt nicht, worum sie sich dereinst einmal drehen wird, und ob überhaupt. Sollte ich einmal Kinder haben, die mich im Grossen und Ganzen beglücken (was ja auch nicht selbstverständlich ist), dann werde ich wahrscheinlich zurückschauen und denken: zum Glück habe ich mich damals für Kinder entschieden! Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es ohne wäre! Sollte ich keine Kinder haben, dann werde ich vielleicht zurückschauen und mich fragen: wie wäre es wohl gewesen, hätte ich Kinder gehabt? 

Kinderkriegen, keine Kinder haben wollen, keine Kinder haben können: alle diese Lebenswege brauchen Mut, und auf jedem mutig beschrittenen Lebensweg brauchen wir Menschen, die uns unterstützen und ermutigen in unserer Entscheidung. Wir brauchen Menschen, die uns ganzheitlich so annehmen, wie wir sind, mit unseren Ängsten und Freuden, unseren Entscheidungen und Hoffnungen, statt in den uns fehlenden Erfahrungen ein Manko zu sehen. Wir haben ja sowieso alle nur einen sehr eingeschränkten Erfahrungshorizont. Das trifft auf alle Lebensbereiche zu.

Meine Hoffnung ist, dass ich einmal zufrieden auf mein Leben zurückschauen kann. Nicht mehr, nicht weniger. Ich glaube die Chancen stehen gut, dass mir das mit und ohne Kinder gleichermassen gelingen kann. Ich bin grundsätzlich ein erfüllter Mensch, trotz all den Zweifeln und Ängsten und Unsicherheiten, die das Leben so bringt. Ich bin dankbar, dass ich lebe, dankbar für das, was mir im Leben mitgegeben wurde und für die Menschen, die mich umgeben. Es ist so unglaublich viel und ich halte oft inne und denke: Danke! Dann fliesst mein Herz über vor Freude. Es ist bei weitem nicht nur die Kinderfrage, die mich definiert und ausmacht.

Ich glaube, was ich am meisten bereuen würde, ist irgendwann einmal zurückzuschauen und feststellen zu müssen, dass ich vor lauter Was Wäre Wenn vergessen habe, das Leben zu geniessen und dafür zu danken, was ich habe. Ich will das Glück, wenn es da ist, mit allen meinen Armen und Beinen umarmen können, damit ich gestärkt bin, sollte es mir mal abhanden kommen. Ich will die Beziehungen, die mich tragen, pflegen und hegen wie einen bunten Garten, damit ich mich in Zeiten des Kummers darin aufhalten und umgekehrt anderen einen Aufenthaltsort bieten kann. Mit Kind und Kegel.