Freitag, 12. Juli 2013

Kein Platz in dieser Welt

Chelsea ist die Gegend der Reichen und Schönen. Die üblichen High Street Shops (Mango, Banana Republic, Zara etc) haben keine Filialen, denn das hier ist das Revier von Stella McCartney, Chanel und co. Die weissen Häuserfassaden erinnern an Zahnpastawerbung und bieten einen elegant-kühlen Kontrast zu den schwarzen Edelkutschen, die davor parkiert sind. Ich kenne mich in dieser Gegend nicht aus, denn ausser dem V&A Museum und den ausgestopften Vögeln im naturhistorischen Museum gab es bisher kaum Grund hierher zu kommen. Bis heute.

Heute besuche ich Frau S. in den subventionierten Wohnungsblöcken des Edhar Court. Frau S. war früher einmal Stewardess einer europäischen Airline. Woher sie ursprünglich kommt, kann sie mir nicht genau sagen. Zu viel ist sie gereist, schon als kleines Kind mit ihrer Mutter. Wir sprechen französisch miteinander. Sie erzählt von ihrem Neffen in Frankreich und ihren ehemaligen Arbeitskolleginnen in Kanada. Frau S. kann kaum mehr gehen und ist in ihrer Wohnung in Chelsea gefangen. Wäre da nicht ihr "Engel", Jamira, eine philippinische Frau in meinem Alter, die bei Frau S. wohnt und sie Tag und Nacht pflegt, um ihren kranken Eltern in den Philippinen den Arzt bezahlen zu können und für ihr Stipendium als Medizinstudentin zu sparen.

Frau S. sagt sie weine oft und sehne sich nach Gesprächspartnerinnen, mit denen sie über Politik, Gesellschaft und Geschichte reden kann. Sie will die Welt in ihr Wohnzimmer holen. Sie sehnt sich danach, zu einem Kreis von Menschen zu gehören, die sich wöchentlich bei ihr zuhause treffen.

Nirgends hat Einsamkeit ein so brutales Gesicht, wie in einem der wohlhabendsten Grossstadtvierteln der Welt, wo scheinbar alle alles haben. Frau S. hat keinen Platz mehr in dieser Welt.

Beim Verabschieden frage ich mich, wie oft Jamira nachts wohl heimlich in ihr Kissen weint. Sie hat noch nie einen Platz in dieser Welt gehabt. Und so wirklich einen Platz hat sie nicht einmal in der Welt von Frau S.


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