Dienstag, 3. Januar 2012

Nostalgie

Ankommen auf Boldern ist ein bisschen wie nochmals von vorne beginnen. Hier lernten wir Vikare und Vikarinnen uns im August gegenseitig kennen. Es war Sommer und warm, sonnig und Aufbruchstimmung, und abends konnten wir draussen sitzen und fühlten uns bei ein, zwei Schluck Wein ein bisschen wie verwegene StudentInnen. Wir gingen aufs Boot, wenn wir abends frei hatten, oder im See baden, und fragten uns, was in diesem Vikariat wohl alles auf uns zukommen würde. Wir rissen Witze über das zukünftige Pfarrersein, aus Verlegenheit vor dem Unbekannten. Es fühlte sich gut an, tollkühn und speziell, als lernende Pfarrerin in eine Gemeinde zu gehen.

Jetzt ist Winter. Wir sitzen abends nicht mehr so lange draussen. Nicht nur, weil die sommerliche Wärme schon lange das Weite gesucht hat (abgesehen von ein paar fehlgeleiteten Frühlingstagen), sondern weil auch die hartgesottenen unter uns als halbfertige Pfarrer und Pfarrerinnen abends ziemlich fertig sind. Die Arbeit in der Gemeinde erfüllt auch längstens das Soll an sozialen Kontakten, die während des Verfassens der Lizentiatsarbeit zu kurz gekommen waren. (Oder in meinem Fall: die Gespräche über Gott, Kirche und die Welt während meines Aufenthalts im super-säkularen London.)

Auf den zweiten Blick ist es doch ziemlich anders als am Anfang. Die ehemals fremden Gesichter sind zu vertrauten Gesichtern geworden, die alle paar Wochen aus dem Nichts auftauchen und ein Gefühl von Normalität vermitteln - wie ein Haufen alter Schulfreunde oder eine Familiensippe. Da fühlt sich der eingeschlagene Werdegang, der sonst für irritiertes Stirnrunzeln sorgt, für ein paar Tage ganz normal an. Vikare und Vikarinnen unter sich. Nächsten Sommer beziehen die ersten ihre Pfarrhäuser und leiten die Gemeinde selber, wie die Grossen, ohne die hin und wieder auftauchende Gruppe von Mitlernenden und ohne die Runden intensiver Selbstreflexion.

Es ist nicht mehr Sommer. Nach dem Abendessen ist es schon lange dunkel. Statt auf dem Vorplatz hoch über dem Zürichsee versammeln wir uns abends im Billardraum, töggelen oder schieben Kugeln über den grünen Tisch, schalten MTV ein und fühlen uns ein bisschen wie unser jugendliches Klientel. Die tiefschürfende Verarbeitung von Erlebtem und Gelerntem sparen wir uns, denn eigentlich sind wir einfach froh, dem ewigen Feedback in der Gemeinde zu entkommen, dem Ausgestelltsein und öffentlichen Ausprobieren. Wahrscheinlich wirken wir wie spätberufene KonfirmandInnen. Nur dass keiner wirklich versteht, worum es in dieser Sendung auf MTV eigentlich genau geht (irgendwelche junge Menschen müssen mit ihren grossen Autos nach Miami in eine WG fahren). Die Jugendlichen in den Gemeinden werden es uns nächste Woche erklären können...

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