Sonntag, 22. Januar 2012

Neue Gemeinde, neue Sitten

Seit 1. Januar bin ich in einer neuen Lehrgemeinde. Die Kirche Heiligkreuz steht östlich stadtauswärts auf einer Anhöhe. An sonnigen Tagen sieht man von den Drei Weiheren den mächtigen Kirchturm der Jugendstilkirche. Sie war die erste Kirche im Ostbezirk Tablat, erbaut 1911-1913, als der Osten der Stadt noch abgetrennt vom Zentrum einen eigenen Mikrokosmos bildete. Hier lebte die Arbeiterklasse fernab von den wohlbetuchten Stadtherren, die durch die weltberühmte St.Galler Stickerei Ruhm erlangten.

Das Fresko über dem marmorbeschichteten Altarraum zeigt Abbildungen von Menschen, die damals beim Erbau der Kirche im Heiligkreuz gewohnt hatten - Arbeiter und Arbeiterinnen mit ihren Werkzeugen, wohlgeformte Frauen, das goldene Haar als Zopfkranz gebunden, kräftige Männer mit bärtigen Gesichtern und lockeren Hemden. Keine typischen Hirten und Hirtinnen, wie wir sie uns heute vorstellen würden! Aber die Krippe, zu der sie sich hinwenden, ist auch nicht gerade historisch hieb- und stichfest dargestellt. Das ebenfalls sehr nordisch aussehende Maria-Josef-Paar steht inmitten einer wohlgetrimmten Buchsbaumhecke, das Kindlein in den Armen, und der zukünftige Christus prachtvoll über ihren Köpfen schwebend.

Der Künstler Carl Liner wurde für seine tollkühne Darstellung der barfüssigen Arbeiterklasse im Fresko aus der Stadt gejagt und konnte nie wieder künstlerisch tätig sein. Das Fresko im Heiligkreuz war sein grösstes und letztes Werk. Zu Lebzeiten wurden seine Bilder nie mehr ausgestellt.

Lange bevor die Kirche Heiligkreuz ihren heutigen Platz fand, diente der Hügel als Galgenhügel.

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Der Kirchenraum ist mächtig, ganz anders als der quadratisch moderne Innenraum der Haldenkirche. Über den Köpfen der Gemeinde thront die Orgel. Wenn sonntags 20-30 Gemeindeglieder sich zum Gottesdienst versammeln, dann wünscht man sich wohl manchmal hundert Jahre zurück, in eine volle Kirche, nur um zu sehen, wie dieser Raum gefüllt aussieht. Dem kleiner werdenden Publikum hat sich die Gemeinde angepasst, indem sie die ersten Reihen Kirchenbänke hat herausreissen lassen und stattdessen moderne Stühle hingestellt hat. So versammelt sich heute die Gemeinde im Halbkreis im Altarraum. Eine kleine, feine, besinnliche Runde.

Nach dem Gottesdienst schüttle ich Hände.

"Wie sagt man Ihnen denn? Frau Pfarrer noch nicht, oder?" - "Ach, einfach Carla." - "Das ist aber nicht besonders angebracht... Dann einen schönen Sonntag, Frau Vikarin!"


Andere Gemeinde, andere Sitten.

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