Dienstag, 18. Oktober 2011

Auf High Heels zur Kanzel - oder: die Sorgen einer Vikarin vor der ersten Predigt

Die Gemeinde starrt mich an. Ich lausche meinen eben geäusserten Worten nach: "Ich lese nun das Gedicht Herbstmanöver der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann." Dann senke ich den Kopf, um das literarische Wunderwerk zum besten zu geben, so wie ich es am Tag vorher mehrere Male geübt habe. Aber vor mir liegt kein Gedicht. Stattdessen ist der Kanzelpult übersät mit Müll, Blättern, Essenresten, alles drunter und
Muellhaldedrüber, chaotisch von den Pfarrkollegen liegen gelassen. Ich wühle, lächle gequält in die Menge, vielleicht merkt es ja niemand. Die Gemeinde wird unruhig. Ich finde das Gedicht nicht, also suche ich halt die Predigt, was soll's machen wir halt gleich mit der Predigt weiter. Aber auch die ist im Abfallhaufen nicht zu finden. Ich entschuldige mich kurz, stürme nach hinten zur Sakristei - insofern ich denn stürmen kann, denn ich bemerke gerade, dass ich knallrote High Heels trage. Finde auch in der Sakristei meine Blätter nicht, stolpere zurück zum Kanzelpult und schaue meinen Lehrpfarrer an. Er ist ja schliesslich da, um mir zu helfen. Doch er schaut mich nur verächtlich an, dreht sich lachend zur Gemeinde und sagt: "Na, da muss man sich aber schon ein bisschen besser vorbereiten, wenn man Pfarrerin werden will!" Und zu mir: "Hilf dir selber aus der Patsche."

Ich wache auf.

Es ist Sonntag Morgen. Heute halte ich zum ersten Mal alleine einen Gottesdienst. Predigt geschrieben, liturgischer Ablauf bereit, Organist und Messmerin informiert. Traumatisiert von der nächtlichen Horrorvision kontrolliere ich drei Mal, ob ich alles dabei habe. Es ist mir recht mulmig zumute, eine Gemeinde durch den Gottesdienst zu leiten. Ist es nicht anmassend bestimmen zu können, worüber in der Kirche nachgedacht und wofür gebetet wird? Die Gewissheit, dass mir das zusteht, hat mich bisher noch nicht heimgesucht. Mich plagen Zweifel, ob ich gläubig genug bin, um einen Gottesdienst zu leiten. Aber jetzt ist es zu spät. Es ist Sonntag Morgen 9 Uhr und in eineinhalb Stunden bin ich dran, egal wie gross meine Zweifel an meiner Frömmigkeit grad sind. Das muss ich jetzt pragmatisch sehen.

In der Kirche versichere ich mich zuerst, dass der Kanzelpult aufgeräumt ist, und lasse mir dann von meinem Lehrpfarrer versichern, dass er mir bei Aussetzern zu Hilfe eilen wird.

Alles läuft gut. Innerlich bin ich angespannt. Locker fühlt sich anders an. Aber ich ziehe den Gottesdienst durch, alle Einsätze kommen rechtzeitig und die Worte fliessen wie geplant. Auch die beiden Sonntage darauf stehe ich vor der Gemeinde und halte den Gottesdienst. Beim dritten Mal habe ich mich soweit entspannt, dass ich endlich auch die Gemeinde wahrnehme und meine innere Anspannung mir nicht die ganze Energie absaugt. Die Form des Gottesdienstes nähert sich bei der dritten Performance allmählich dem, was ich unter Gottesdienst verstehe - partizipativ, unter Einbezug der Gemeinde, gemeinsam feiern statt eine One-Woman-Show abziehen. Fazit nach drei Sonntags-Gottesdiensten:

Die sichtbare Präsenz der Pfarrerin während dem Gottesdienst sinkt mit wachsendem Selbstvertrauen.

Tutto chiaro?

1 Kommentar:

  1. Sehr schön geschrieben, ich dachte erst, was ist das denn für eine Gemeinde?! :))

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