Montag, 24. Oktober 2011

Der erste Kuss

Eigentlich wollte ich nur schnell den Müll rausstellen.

Auf dem Weg zum grossen, silbrigen Müllschlucker, gleich neben der Tonhalle, kam ich an den blinkenden und duftenden Stände des Olma-Jahrmarktes vorbei. Für einen Franken schnauste ich ein Erpeeri aus roter Zuckermasse, so eines, wie ich als Kind von meinen Eltern bekam. Zweimal im Jahr, anlässlich des Jahrmarktes. Als Teenager kaufte ich mir das Erpeeri dann selber, aus meinem Taschengeld, oder liess es mir von einem Buben schenken, der ein bisschen in mich verknallt war. Das war nur meistens nicht derjenige, den ich haben wollte - oder vielleicht doch? Besonders an der Olma wechselte der Herzbube im Stundentakt.

Teenager-Liebe. Rückblende. Meinen ersten Kuss habe ich meinem Konfirmationspfarrer zu verdanken. Zarte fünfzehn Jahre, im Konfirmandenlager, bekam ich jedes Mal Herzpöpperln, wenn der 17-jährige Hilfsleiter mich ansah. Er hiess Sämi und ich konnte das Gefühl nicht einschätzen. Deshalb fand ich ihn blöd und war richtig fies zu ihm. Der Konfirmationspfarrer aber (der hiess Sigi), der hat meine emotionale Innenwelt richtig interpretiert und ein ernstes Wörtli mit mir und mit Sämi geredet. Er vermutete nämlich, dass wir uns nicht doof fänden, sondern eher ganz flott. So kam es zum ersten Kuss am Lagerfeuer, während Sigi die Klampfe schlug und die anderen "Das alte Haus von Rocky Tocky" johlten. Die Konfirmationsliebe hielt drei Wochen. Der Sämi hat es sogar zum Abendessen zu meinen Eltern geschafft. Es gab Hähnchen.

Das kirchliche Trauma blieb mir wahrscheinlich deshalb erspart. Der Konfirmationsunterricht hat mir in solch komplizierten Dingen wie der pubertären Gefühlswelt den Weg gewiesen. Im Vergleich zu Schule und Elternhaus eine eher progressive Grundhaltung...


Es war auch Olma-Zeit damals. Und so zogen mich die Lichter auch an diesem Abend in den Bann. Ich schlenderte über den Jahrmarkt. An mir zogen die Schnapsdrosseln aus der Halle 5 vorbei. Das wiederum erinnerte mich an die Slalom-Ski-Wettbewerbe von früher. Nur dass die Fähnchen ständig Standort wechselten und nach Knoblibrot und Bier rochen. Ein paar erste Küsse glaubte ich auch beobachten zu können. Ein paar Minuten später blieb ich unter einer Bahn stehen, wo die Leute kopfstehen und kreischen. Ich schaute nur von unten und dachte, dass das böse ins Auge gehen würde, wenn die Schrauben dieser Bahn locker wären. Dann fiele diese schwere Stahlkonstruktion samt kreischenden Menschen auf mich. Eine recht unübliche Todesart.  Aber ich habe überlebt. Bevor ich mich meinen schwarzen Gedanken hingeben konnte, standen plötzlich ehemalige Schulkollegen vor mir. Und schon hatte ich einen Tutschauto-Jeton in der Hand und versuchte die anderen möglichst frontal zu rammen, wobei ich mir beinahe ein Schleudertrauma zugezogen hätte. Auf der Geisterbahn hatte ich dann aber andere Sorgen. Traumatisiert von früher fürchtete ich mich vor den Skeletten, die da gleich ihre knochigen Finger nach mir ausstrecken würden. Ich musste tatsächlich 31 werden, um das Trauma endlich zu überwinden. Das gelang recht einfach, weil ich vor allem die provisorisch zusammen geschusterten Wände und Stoffe wahrnahm, die hier und da Löcher hatten und die fiesen Gespenster noch vor ihrer Untat in unvorteilhaftes Licht stellten. Früher war das alles voll gut abgedichtet und die Bahn ging viiiiel länger. Und es gab echte Menschen!

Eigentlich wollte ich nur schnell den Müll rausstellen.

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