Donnerstag, 26. Juli 2012

Hinten im Bus

Hinten im Bus sitzen die Coolen. So viel wusste ich noch von den Sekundarschulreisen. Hinten im Bus sitzt man weit weg von der Lagerleitung und wird in Ruhe gelassen. Denn von denen hinten im Bus hat man ein bisschen Respekt. Hinten im Bus kann man auf dem iPhone alte Musikvideos von frueher anschauen, zum Beispiel "Wish I were an angel" von der Kelly Family oder "Babe" von Take That, und sich darueber unterhalten, in welchen der busperen Boys man seine teenagerliche Sehnsucht investiert hat. Hinten im Bus darf man auch mal peinlich sein. Denn hinten im Bus ist man der ewige Teenager, auch mit zweiunddreissig Jahren. Hinten im Bus stopft man sich die Kopfhoerer in die Ohren, wenn die Lagerleitung das Boardmikrofon zwecks Vermittlung wichtiger Informationen in Beschlag nimmt, verdreht die Augen und denkt sich heimlich, dass man diesen Kram doch nicht noetig hat. Das ist kindisch. Und deshalb ist es so unglaublich lustvoll, mal endlich wieder eine Woche hinten im Bus zu sitzen, zusammen mit seinen besten Gspaennli.

London - Sheffield - Bradford - Manchester - Liverpool: zum Abschluss des Vikariats fahren die zweiundzwanzig Vikare und Vikarinnen eine Woche nach England, begleitet von vier vollamtlichen Erwachsenen. Diese planen fuer uns die WC-Pausen, checken die Gruppen in den Hotels ein und kuemmern sich darum, dass wir regelmaessig essen. Warum England? Hier gibt es die "Fresh Expressions of Churches", eine junge Bewegung der anglikanischen und methodistischen Kirche, die ganz andere Formen von Kirchen anerkennt, mitten in sozial explosiven Stadtvierteln einer postmodern gepraegten Gesellschaft. Die frischen Kirchen sprechen Menschen an, die als "de churched" oder "non churched" bezeichnet werden, und doch auf der Suche nach Lebenssinn, Gemeinschaft und spiritueller Tiefe sind. Man trifft sich in Pubs, backt zusammen Brot, bietet Gottesdienste in Kirchenkaffees an. Sozial benachteiligte Jugendliche gestalten mit Unterstuetzung eines Pfarrers selber ihre Kirche, Banker entwickeln ihre eigenen Meditationsliturgien.

Bis hierher noch nicht viel Neues. Angebote der reformierten Kirchen in der Schweiz versuchen sich ebenfalls darin, durch neue Angebote die postmodernen Sinnsuchenden anzusprechen (man darf heute auch vorsichtig wieder von Mission reden). Es werden gross angelegte Gesellschaftsstudien in Hinblick auf das religioes-spirituelle Verhalten verschiedener Gruppen betrieben (als sogenannte Sinus-Studie bei der Schweizer Pfarrschaft mittlerweile zu Beruehmtheit gelangt). Das ganz andere in England: es werden bereits waehrend der Pfarrausbildung Weichen gestellt. Man kann sich zum "Pioneer Minister" ausbilden lassen und zum dynamischen Gemeindeaufbau in brach liegende Gegenden oder Kirchen geschickt werden. Die "Pioneer Ministers", die wir treffen, sind denn auch aeusserst kreative, kommunikative und gesellschaftsorientierte PfarrerInnen (meistens aber ohne das -Innen). Ihre Arbeit wird von der Mutterkirche als gleichwertig anerkannt. Die Pioniere bekraeftigen, was viele von uns in den jeweiligen Vikariatsgemeinden gelernt haben: Kirche geht vom Menschen aus. Sie braucht Mut zur Verletzlichkeit und Fehlerhaftigkeit. Sie braucht Pfarrer und Pfarrerinnen, die ueber sich selber lachen können und vor allem: die den Menschen ganz und gar angstfrei begegnen.

Zum Beispiel denen hinten im Bus.

Mittwoch, 13. Juni 2012

Der Klang der Stille

(Alle Namen sind im folgenden geändert.)


Frau Meier lacht. Sie lacht oft, ein verschmitztes Grinsen, wie wenn sie gerade etwas angestellt hätte. Frau Meier kann sich kaum erinnern, was eben gerade war, noch wo sie sich genau befindet. Doch sie ist ganz präsent. Sie erinnert sich an mich und freut sich über das Wiedersehen. Ich weiss nicht, was es ist, das sie erinnern lässt.

Frau Gabathuler schläft. Das freut mich. Sie kann sich entspannen und ausruhen. Vielleicht klingen die ruhigen Klänge der Klangschale, das herzhafte Singen der Mitbewohnerinnen oder der Stimmlaut meiner Predigt auch im Raum der Träume - vielleicht auch nicht.

Herr Matzinger ist erst seit vier Wochen hier. Von seinem neuen Wohnort ist er noch nicht wirklich überzeugt. Regeln, Tagesabläufe und die Trennung von seiner Frau, die noch alleine wohnen kann, machen ihm sichtlich zu schaffen. Er muss sich an die neue Lebenssituation gewöhnen.

Frau Möckli möchte sterben. Seit Wochen trägt sie diesen Wunsch in sich. Und doch bringt sie jede Woche die Energie auf und kommt zur Andacht ins Erdgeschoss. Manchmal fällt sie in einen ruhigen Schlaf, um im nächsten Moment wieder aufmerksam zuzuhören. Ihre Augen sind wach auf mich gerichtet. Sie sucht Frieden.

Einige kommen nicht mehr. Sie finden die Kraft nicht mehr oder sie sind verstorben.

Die Andachten im Pflegeheim gehören mit zu den stärksten Momenten der Woche. Sie bringen Abwechslung in den Wochenablauf des Pflegeheims und zeigen mir eine Welt, zu der man als 30jährige sonst kaum Zugang hat. Gemeinsam mit den Bewohnerinnen tauche ich in eine andere Welt ein, in die göttliche Welt, eine Welt des Zuspruchs und des Friedens. In dieser Welt sind die Altersgrenzen ganz aufgehoben. Wenn ich den betagten und pflegebedürftigen Menschen aus der Bibel vorlese, einige Gedanken formuliere, mit ihnen ins Gespräch komme, wenn ich die Klangschale anklingen lasse, mit ihnen bete und singe oder Kerzen anzünde, dann weht der Heilige Geist diskret-verhalten durch den Raum.

Fünfundvierzig Minuten Andacht rücken meinen Alltag wieder ins rechte Licht. Ich gehe beschwingt und mit einem verschmitzten Lachen ins Büro zurück - das Lachen von Frau Meier.


Mittwoch, 2. Mai 2012

Zirkusmission

Zirkusmusik klingt durch mein Küchenfenster, während ich mich mal wieder in tiefster Selbstreflexion über meine Kernkompetenzen als Vikarin befinde. Ich wippe sachte mit. Morgen zieht der Zirkus weiter und ich werde ihn verpasst haben - schade, eigentlich. Die Musik trägt Kindheitserinnerungen in meine Stube. Damals, als ich ganz unreflektiert eine grosse Tüte Popcorn vor den Augen der Elefanten verschlungen habe und dem kleinen Mann des Zirkus Knie noch kaum über die Schulter gewachsen bin. Das war schön, eine Welt ohne nachdenken zu müssen über den situationsgerechten Einsatz von Symbolen!

Das penetrante Geräusch meiner Klingel reisst mich aus der fernen Zirkuswelt. Wer klingelt mitten am Nachmittag in meine abschweifende Selbstumgarnung rein? Es sind zwei nette Frauen, die zu mir hinaufschauen. Ich habe sie noch nie gesehen. Erster Gedanke: Nein, das Auto, das hier falsch parkiert ist, gehört mir nicht. Doch die Frau sagt: "Grüezi! Das ist schön, dass wir sie antreffen! Wir bringen Ihnen ein Buch vorbei." - ? - "Die Bibel" - Ich bin irgendwie sprachlos, weil ich gerade nicht verstehe, weshalb mir diese Frau eine Bibel bringen will. Es liegen ja schon drei vor mir auf dem Tisch. - "Es geht darum zu verstehen, was richtig im Leben ist." - Willkommen auf dem gleichen Dampfer! Fast will ich sagen, dass ich mich gerade selber reflektiere. Dann finde ich meine Sprache wieder: "Ich bin Pfarrerin." - Die Frau macht ein langes Gesicht: "Aha, dann wissen sie ja schon etwas darüber..." - Nun ja... Weiss ich das? Ich sage: "Ich habe schon einen ganzen Stapel Bibeln bei mir. Ich bin eigentlich versorgt. Sie rennen quasi offene Türen ein." - Die Frauen sehen ein, dass sie ihr Buch wieder einstecken können.

Ich setze mich hin und beuge mich wieder über die Liste der Kompetenznachweise, die ich mir selber aussuchen und zuschreiben darf. Der dunkelblaue Audi vor meiner Tür nervt. Soll mal wegfahren. Der gehört sicher Geraldine.


Montag, 23. April 2012

In 5 Tagen um die Welt

Guru Granth Sahib liegt auf seinem Thron unter kunstvoll bestickten rosaroten Seidentüchern ganz versteckt. Ein Mann sitzt im Schneidersitz hinter dem Thron und wedelt unaufhörlich über den Guru. Der podestartige Thron ist unter dem goldenen Dach eines Minitempels (Gurdwara genannt) plaziert, der ganz vorne in der grossen Gottesdiensthalle steht. Alle Blicke richten sich auf Guru Granth Sahib. Rechts des Minitempels steht ein weiteres Podium, etwas tiefer gebaut als der Thron des Gurus. Dort sitzt ein Sikh-Priester im Schneidersitz und predigt in einer mir gänzlich unbekannten Sprache ununterbrochen auf die vielleicht zwanzig Menschen ein, die in der grossen Halle etwas verloren wirken. Die Betenden sitzen auf dem weichen Teppichboden, ebenso wie die zwanzig Konfirmanden und Konfirmandinnen der Halden-Gemeinde. Nach einer halben Stunde verlässt der Priester das Podium. Drei Musiker nehmen seinen Platz ein und spielen fernöstliche Klänge auf dem Harmonium. Ununterbrochen wedelt der Mann im Gurdwara über Guru Granth Sahib.

Singh, der uns durch den Sikh Tempel in Southall westlich von London führt, versucht uns zu erklären, was hier passiert. Doch Singh versteht unsere Fragen nicht und wir verstehen seinen Akzent nicht. Die Annäherung an die Religion der Sikhs ist eine holprige Angelegenheit, die von vielen Missverständnissen aber einer durch und durch herzlichen Atmosphäre geprägt ist. Auszüge aus dem Gespräch (wobei ich als Übersetzerin zwischen Singh und der Klasse tätig bin, während der Prediger im Hintergrund ziemlich laut ins Mikrofon spricht):

Ich: "So is Guru not a human being?"


Er: "Guru is the word! It means from dark to light. Guru leads us from dark to light. The body is not important."


Ich zur Konfklasse: "Also irgendwie verstehe ich das so, dass Guru nicht eigentlich ein Mensch ist, sondern vom Körper losgelöst, eine Art Lebensweisheit, das Wort."


Eine Konfirmandin: "Verstehst du, was du grad sagst?"


Ich: "Nein, nicht wirklich. Ich bin ein bisschen verwirrt grad..."


Auch weitere Versuche, hinter das Geheimnis des Sikhismus zu kommen, gestalten sich erstmal eher schwierig. Doch Singh zeigt uns begeistert den Tempel und wir sind begeistert von der offenen Art Singhs und so hören wir gespannt zu, wie er uns erzählt, dass Guru Granth Sahib jeden Abend nach dem Gottesdienst (der den ganzen Tag dauert) rituell auf dem Kopf des Priesters zu Bett gebracht wird, in den "Scripture room". Also scheint Guru Granth Sahib ein Buch zu sein...

Das Geheimnis um den Glauben der Sikhs beginnt sich zu lüften, als die Führung ein Kollege Singhs, Singh, übernimmt, der eigentlich für den Besucherdienst zuständig ist. Er entschuldigt sich, dass er sich erst jetzt Zeit nehmen kann, da eine 200köpfige Schulklasse gerade im Tempel zu Besuch ist. Singh weiss ganz genau, wie er einer christlichen Klasse seine Religion erklären kann. Und somit lüftet sich auch das Geheimnis um den körperlosen Guru Granth Sahib. Zwischen 1469, der Gründerzeit der Religion, und 1708 gab es zehn Gurus, weise Männer, die das Wort Gottes zu den Menschen brachten. Der letzte Guru beschloss 1708, dass nun die Reihe der lebenden Gurus zu Ende sei und die Worte der Gurus in einem Buch zusammen gefasst werden sollen. Dieses Buch ist der ewig lebendige Guru, der die Menschen leitet und inspiriert. Guru Granth Sahib ist also tatsächlich ein Buch - das heilige Buch der Sikhs, das die Reihe der Gurus abschliesst.

Der Sikhismus hat sich im 15. Jahrhundert vom indischen Kastensystem und somit vom Hinduismus gelöst und vertritt die Gleichheit aller Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft. Wirklich verblüfft hat uns die ungebrochene Herzlichkeit und Gastfreundschaft der Sikhs. Gastfreundschaft ist nicht nur ein Nebenprodukt der Religion. Um die Aufnahme von Gästen dreht sich alles, nicht nur im übertragenen Sinne, sondern ganz konkret: Zentrum jedes Sikh Tempels ist der Esssaal und die Küche, in der von vier Uhr morgens bis neun Uhr abends gekocht wird... genauso lange wie Gottesdienst gehalten wird. Das wiederholt sich Tag für Tag für Tag. Das Essen bei den Sikhs ist kostenlos, für jeden Menschen, der den Weg in ihren Tempel findet. Auch die Konfirmationsklasse wird selbstverständlich zum Esssaal geführt und verköstigt. Für die Jugendlichen gibt es wahlweise indisches Essen oder Pasta - alles vegetarisch, denn das Töten von Tieren ist gegen das göttliche Gebot und schlecht fürs Karma.

Datei:Sikh pilgrim at the Golden Temple (Harmandir Sahib) in Amritsar, India.jpg
Laut einer BBC Reportage befindet sich die grösste Küche der Welt im Haupttempel der Sikhs in Amritsar, Indien (hier im Bild).










Auf dem Weg zurück nach London sprechen wir über Guru Granth Sahib und das Prinzip der Wiedergeburt. Doch Gesprächsthema Nummer eins ist die Warmherzigkeit der Menschen, die wir im Tempel angetroffen haben. Die Konfirmanden schwärmen von Singh, den zwar niemand wirklich verstanden hat, der uns durch seine Art aber doch alles gesagt hat.

Sonntag, 25. März 2012

Idaplatz - Sommerzeit

Zürich, Idaplatz, Frühlingssonne. Mit der Sommersonne kommt auch die Energie zurück, die die letzten Wochen unter dem Teppich lag. Die Blogger-Vikarin war am Ende. Nun melde ich mich zurück an die Tasten!
Eine angenehme Nebenerscheinung der vielen Kurswochen während des Vikariats sind die Aufenthalte in Zürich. Aufgewachsen in St.Gallen fand ich die Stadt konsequent doof (alle sind gestresst und versnobt) und liess mich auch als Berner Studentin widerstandslos von den Vorurteilen tragen (it's all about money). Das ist nun vorbei! Zürich hat was. Nach 31 Jahren haben sich meine Vorurteile in Luft aufgelöst und ich finde Zürich einen würdigen London-Ersatz. Hallo Frühling! Hallo Idaplatz!

Aber was war los mit der Vikarin, zwischen dem Meditieren in Montmirail und dem Predigtschreiben am Idaplatz am Sonntagabend? Die Selbstreflexionskrise hat einen neuen Höhepunkt erreicht und ich fand es hart, mich selber und die tagtägliche Auseinandersetzung mit meinem Schaffen und Wirken zu ertragen. Ich habe den Wechsel der Vikariatsgemeinde unterschätzt. Jetzt, da schon alle vom Abschiednehmen reden, lernen mein neuer Ausbildungspfarrer Christoph und ich uns gerade kennen und steigen in einen gemeinsamen Lernprozess ein. Nach einem relativ holprigen Start in Sachen Feedback und langen Gesprächen sind wir nun angekommen, so scheint es mir, und können loslegen. Dass die berühmtberüchtigten Prüfungsdossiers (darüber gibt's BESTIMMT noch einen Blog) und Abschlussberichte auf der Bildfläche erscheinen, passt gerade nicht ins Konzept. Total azyklisch!

Ich entdecke die Faszination Klangzeit und auf welch kreative Weise Klang und Musik den Kirchenraum und die Menschen bereichern und inspirieren können. Der Schlüssel zur Heiligkreuz-Kirche verschafft mir jederzeit Zutritt zu einer berührend-atmosphärischen Klangwelt mit meterhohen Obertonpfeifen und Klangstühlen. Mit diesem Schlüssel habe ich schon viele kirchennahe und -ferne Freunde zum Staunen gebracht, was mich wiederum zum Staunen gebracht hat.

Ich habe die Bewohnerinnen des Pflegheims Heiligkreuz kennengelernt: Frau M., die erst gerade eingezogen ist und noch nicht begreifen kann und will, dass sie nun im Heim wohnt. Frau L., die nichts mehr Essen will, weil für sie die Zeit zum Sterben gekommen ist. Nach der Jugendzeit in der Halden besuche ich nun betagte Menschen und lerne die Hochs und Tiefs des Alltags im Pflegheim kennen. Die erste Andacht im Heim, die ich vor ein paar Tagen selber gehalten habe, war eine grosse Herausforderung. Was kann ich als 30jährige Vikarin weitergeben, an Menschen die ungaublich reiche Lebensgeschichten zu berichten haben und sich gleichzeitig mit dem Ende ihres Lebens auseinandersetzen? Kann ich mich überhaupt ausreichend in ihre Lebenswelt hineinfühlen, um ihnen etwas für die kommenden Tagen mitzugeben?

Es ist gelungen. Wir haben Abendmahl gefeiert und über die Geschichte vom grossen Gastmahl nachgedacht, gesungen und gelacht. Es war feierlich in dem kleinen sterilen Raum, der dem grossen klingenden Kirchenraum in keiner Weise nachsteht. Die leicht überstrapazierte pfarrerliche Wendung "wir kommen alle vor Gott, so wie wir sind", kriegt im Pflegheim, zwischen alt und jung, wieder ihre ganz tiefe und wahre Bedeutung.

Montag, 20. Februar 2012

Vikarenhumor ist... wenn man trotzdem lacht

Nach vier Kurswochen nonstop mit meditativen und explosiven Momenten, stillen Stunden und lauten Worten, bin ich wieder in meinem normalen Alltag angelangt: ich verbringe mehr als zwei Tage pro Woche zuhause und kann mein Privat- und Freizeitleben wieder so gestalten, wie ich das möchte. Vorgestrige Menschen nennen das Work-Life-Balance. Ich nenn's einfach Life-Balance. Bei der Arbeit bin ich ja nicht tot.

Heiraten, beerdigen, neue Kirchen pflanzen und Ikonen malen; taufen, Sterbende begleiten, Seelsorgegespräche analysieren und nachstellen; Freiwillige hegen und pflegen, die Kirchenräume hübsch und familienfreundlich gestalten...

Zeit für Humor blieb trotzdem. Oder für das, was man in einem Vikariatskurs als Humor zu identifizieren glaubt.

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Nach dem sehr reichhaltigen Mittagessen im Restaurant, der Kaffee wird serviert. Vikar U. fragt: "So, sind wir alle wieder arbeitsfähig?" Vikar S. darauf: "Jo nei... süsch würe mer jo nöd i de Chile arbeite!"


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Der Kursreferent stellt eine Frage. Die Vikare starren ihn schweigend an. Keine Reaktion. Der Referent versucht die Situation zu retten: "Ein Sprichwort sagt: Wie soll ich wissen, was ich denke, wenn ich nicht höre, was ich sage." Sagt mein Tischnachbar Vikar L. zu mir: "Für di gilt da im Fall nöd!" (Wer je das Vergnügen hatte, mit mir in einem klassenähnlichen Verband zu sitzen, solidarisiert sich an dieser Stelle mit Vikar L.)

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Der Kursreferent zeigt Bilder von Kirchen und Kirchgemeindehäuser, die seiner Meinung nach besonders gut oder besonders schlecht ausgestattet sind. Bei einem schlecht erkennbaren Bild einer Küche sagt er: "Hier seht ihr nun ein typisches Beispiel einer modernen Gemeindeküche in Deutschland. In der Schweiz findet man das nirgends!" (Ich versuche vergebens, etwas zu erkennen.) "Da steht nämlich ein Bierhahn!" (Aha, jetzt wo er's sagt...) "Das ist ein gutes Beispiel für Gender in der Praxis! Man soll die Innengestaltung der Räume eben nicht alleine den Frauen überlassen." (Ja, das hat er gesagt, das hat er gesagt!!)

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"Apparatchiks sind keine Männer." (Begründung des Referenten, weshalb der Pfarrer in einem Gemeindeprojekt in einem Frauenteam nicht der 'Quotenmann' sein kann.)


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Die Beispiele sind nicht erfunden. Falls euch das Lachen im Hals stecken geblieben ist, zahl ich euch ein Genderbier, um den Frosch hinunterzuspülen. 

Montag, 6. Februar 2012

OM!

Ich gehe jetzt nach Montmirail, schweigen und meditieren und das Yogamätteli und die Wanderschuhe habe ich gleich auch noch eingepackt. Als ich vor rund einem Jahr wahlpflichtig die Option "Spiritualitätswoche" oder "Psychologie und Seelsorge" ankreuzen musste, habe ich mich für ersteres entschieden. Der Grund war nicht ein tiefsitzendes Bedürfnis nach Meditationserfahrung - im Gegenteil! Das Wort Spiritualität rief damals durchaus negative Konnotationen hervor: Weltflucht, Egotrip, peinliche Stille. Aber ich habe das Kreuzchen trotzdem, oder gerade deswegen, bei der Spiritualitätswoche gemacht, weil ich mich einmal in die Höhle des Löwens vorwagen wollte. Später habe ich gelernt, dass man dies die Lernzone (im Vergleich zur Komfortzone) nennt. Da, wo einem weniger wohl ist, wo es ein bisschen weh tut, leichte Panik ausbricht, da lernt man etwas Neues und geht an seine eigene Grenzen. Und da sind wir Vikare und Vikarinnen angehalten hinzugehen. Diesen pädagogischen Grundsatz habe ich dann zwar erst Monate später im Viakariatskurs gelernt (und war ein bisschen stolz auf mein unbewusstes Lernbewusstsein).

Die Panik vor der Stille und der Meditation ist längst abgebaut. Ich gehe heute nicht in die Lernzone, sondern in die Komfortzone, freudig gespannt wie es so ist, im Kloster. Es war die richtige Entscheidungen und mein sturmer Vikariatskopf braucht nichts anderes als das: ganz viel Stille.

Also, a presto, bambini e bambine! Ich geh dann mal in mich!

Samstag, 4. Februar 2012

Im falschen Film

Samstagabend.

Nach einer weiteren intensiven Studienwoche auf dem kirchlichen Hochsitz Boldern über dem Zürichsee scheint mir das Versinken im Kinosessel die richtige Freizeitoption. Man wird nicht gesehen, braucht nicht zu reden und kann sich der Passivität voll und ganz hingeben. In die Welt des Films entfliehen...

Der Blick ins Kinoprogramm ist reizvoll. Im Vergleich zu anderen Wochen flimmern gleich mehrere sehenswerte Filme über die Leinwand. Wichtigstes Auswahlkriterium für heute: leicht, luftig, ein Hauch von Hollywood, ein bisschen Romanze, ein paar Tränen und zum Schluss ein fulminantes Wohlfühlende. Die Seelsorgewoche auf Boldern hatte nämlich mit einigen heftigen Themen aufgewartet: zum Beispiel Seelsorge am Sterbebett und bei Hinterbliebenen. Nach der schonungslosen Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit und der Rolle als Pfarrerin am Ende eines Lebens schien mir George Clooney gerade der richtige Zeitgenosse, um das Gedankenrad zum stehen zu bringen und die heiteren Seiten des Lebens zurück ins Bewusstsein zu holen.

George Clooney - in erster Linie professioneller Nespressotrinker und Dauerbeau. Unglücklicherweise schien meine Erinnerung nicht so weit zurück zu reichen, dass der umschwärmte Hollywoodstar eben nicht nur einfach schön aussieht, sondern sehr oft kritische und aufwühlende Rollen verkörpert, die, wenn auch oft mit einer grosszügigen Portion Ironie, gar nicht so leicht daherkommen wie die Lektüre über das Privatleben des Schauspielers in der Gala. George Clooney in einem oscarnominierten Film, das ist der ultimative Abschaltfilm - dachte ich mir. Ich hatte noch "Up in the Air" im Kopf, eine wahrlich leichte Liebeskomödie an den Flughäfen der Welt.

Hätte ich vorher die Zusammenfassung des Films "The Descendants" gelesen, hätte ich geahnt, dass der Film nichts anderes ist, als eine Fortsetzung der Seesorgewoche auf Boldern: eine Frau auf dem Sterbebett, umgeben von der sich streitenden und versöhnenden Familie, die sich in der ausweglosen Situation irgendwie ihren Weg sucht - manchmal recht, manchmal schlecht. "The Descendants" - ein gehaltvoller und unglaublich stark gespielter Film. Aus Perspektive der Vikarin jedoch eine Verlängerung der bisher emotionalsten und dichtesten Seelsorgewoche. Immer wieder habe ich mich beim Gedanken ertappt, wie ich auf diese oder jene Situation reagieren würde, habe das inszenierte Familiensystem analysiert und mich gefragt, welche Rolle die einzelnen Charaktere in diesem Beziehungsnetz spielen.

Die Seelsorgewoche hat mir bestimmt eine ganz eigene Perspektive auf den Film eröffnet. Aber eigentlich wollte ich doch nur im Kinosessel versinken und die Sterblichkeit ganz und gar vergessen...

Lesson learnt: als Vikarin das Kinoprogramm ganz genau studieren!

Dienstag, 31. Januar 2012

Von der Wiege bis zur Bahre: Ja, ich will!

Vikar R. und Vikarin G. stehen sich gegenüber, Hand in Hand, vor dem Altar. Auf die Frage von Vikarin B., ob sie sich treu sein wollen, und in guten wie in schlechten Zeiten zueinander stehen, antwortet Vikarin G. zögerlich mit "Ja, ich will". Vikar R. setzt etwas beherzter an. Er kennt das schon von seiner richtigen Hochzeit. Die zwanzig Vikare und Vikarinnen in den Kirchenbänken grinsen, zaghaft verlegen, fast ein bisschen gerührt. Auf den rituellen Hollywood-Kuss warten wir jedoch vergebens. Die Übung wird hier abgebrochen. Die Runde ist offen für Feedback an Vikarin B.

Vikar R. und Vikarin G. sind das Probepaar. Am unechten Bräutigam und der unechten Braut übt der Vikariatskurs 2011/2012 in der Kirche Bruggen bei St.Gallen das Vermählen. Wohin setzt sich das Brautpaar und zu welchem Zeitpunkt? In welche Richtung blickt das Paar? Einander an oder zur Pfarrerin? Wann kommt Gebet, Segen, Eheversprechen und in welcher Reihenfolge? Soll man die Hände des Paars zum Segnen berühren oder ist das aufdringlich? Wird das Eheversprechen mit 'bis dass der Tod euch scheidet' oder ohne vorgelesen? Vikar L. findet heraus, dass die Wendung in den von der Pfarrschaft benutzten Liturgiebänden nicht mehr vorkommt. Es ist ja auch gar nicht mehr so zeitgemäss, gar realitätsfern, ausser wenn man den Tod nicht nur als das Ende des irdischen Lebens interpretiert, sondern auch als destruktive Macht in einer Beziehung, die eine Ehe vor dem endgültigen Ableben der Eheleute beenden kann. Dieses Hilfskonstrukt ist aber höchstens für eine Trauung von TheologInnen empfehlenswert...

Wobei wir bereits beim nächsten Studientag angelangt wären: Nach der Eheschliessung wird das Beerdigen geübt. Mit einem gewissen Galgenhumor stellen sich die angehenden Pfarrpersonen dieser existentiellen Aufgabe. Bei einem Spaziergang über den Friedhof lassen wir uns von den Gräbern zu Abdankungspredigten inspirieren, die wir später gegenseitig kommentieren und austauschen. In Kleingruppen tragen wir Grabreden vor und überlegen uns, worauf beim Senken der Urne oder des Sarges zu achten ist. Jeder Schritt, jedes Wort soll genau geplant sein, damit die Angehörigen sich sicher und geleitet fühlen. Beim Beerdigen gibt es keinen Probelauf.

Last but not least trainieren die Vikare und Vikarinnen an Bäbis das Taufen. Welche Aufgabe kommt beim Taufen den Grosseltern, den Paten, den Geschwistern zu? Mit wievielen Fingern wird das Wasser auf die Strin aufgetragen? Kann auch ganz traditionell Wasser mit der hohlen Hand über die Stirn geschüttet werden? Wird die Taufkerze vor oder nach dem Taufakt angezündet? Wie wird mit gottesdienstlichen Sonderwünschen der Tauffamilie umgegangen?

Ja, wie wird eigentlich mit den ganzen Sonderwünschen bei Kasualien (so werden die kirchlichen Rituale an wichtigen Lebensübergängen genannt) umgegangen? Kasualien sind PR für die Kirchen - so sehen das die einen. Kasualien sind immer auch Seelsorge - denken andere. Kasualien sind Verkündigung und werden manchmal unter Druck von Verwandten abgehalten - ein Dilemma. Die Hochzeit soll einen Hauch von Hollywood umgeben (Kate und William lassen grüssen). Bei der Taufe soll für die Taufeltern das Kind ganz besonders im Zentrum stehen, während die Pfarrperson der ganzen Sonntagsgemeinde gerecht werden will. Bei Beerdigungen treffen umwälzende Lebenskrisen und tiefe Trauer auf den oftmals unberechenbaren und chaotischen Berufsalltags der Pfarrerin. Und was, wenn die Pfarrperson selber von Gefühle der Anteilnahme überwältigt wird?

In Gesprächen stelle ich oft fest, dass die Menschen an sich selber viel höhere Ansprüche stellen als ich selber in der Rolle als Pfarrerin. Was ich vom Brautpaar oder von den Taufeltern erwarte sind Neugier und Ehrfurcht vor dem Leben und eine gewisse Kompromissbereitschaft bezüglich der Kasualfeier. Ich erwarte kein Glaubensbekenntnis, keinen Gottesbeweis, keine Aufzeichnung über den regelmässigen Gottesdienstbesuch und keine genauen Bibelkenntnisse. Menschlichkeit, Ehrlichkeit und das Vermögen, sich auf das Neue, Andere einzulassen, das finde ich schon sehr viel. Eine gewisse Offenheit für das Unverfügbare im Leben, das möchte ich spüren, damit ich gerne eine Kasualfeier gestalte. Darauf kann man gemeinsam bauen. Ich mag die Menschen, und ich will, dass sie sich an ihren wichtigen Tagen begleitet und geleitet fühlen, dass sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen können und sich in ihren Anliegen ernst genommen fühlen. Wenn die Offenheit gegenseitig ist, dann helfe ich auch gerne, dem Tag ein bisschen Hollywood zu verleihen!

Sonntag, 22. Januar 2012

Neue Gemeinde, neue Sitten

Seit 1. Januar bin ich in einer neuen Lehrgemeinde. Die Kirche Heiligkreuz steht östlich stadtauswärts auf einer Anhöhe. An sonnigen Tagen sieht man von den Drei Weiheren den mächtigen Kirchturm der Jugendstilkirche. Sie war die erste Kirche im Ostbezirk Tablat, erbaut 1911-1913, als der Osten der Stadt noch abgetrennt vom Zentrum einen eigenen Mikrokosmos bildete. Hier lebte die Arbeiterklasse fernab von den wohlbetuchten Stadtherren, die durch die weltberühmte St.Galler Stickerei Ruhm erlangten.

Das Fresko über dem marmorbeschichteten Altarraum zeigt Abbildungen von Menschen, die damals beim Erbau der Kirche im Heiligkreuz gewohnt hatten - Arbeiter und Arbeiterinnen mit ihren Werkzeugen, wohlgeformte Frauen, das goldene Haar als Zopfkranz gebunden, kräftige Männer mit bärtigen Gesichtern und lockeren Hemden. Keine typischen Hirten und Hirtinnen, wie wir sie uns heute vorstellen würden! Aber die Krippe, zu der sie sich hinwenden, ist auch nicht gerade historisch hieb- und stichfest dargestellt. Das ebenfalls sehr nordisch aussehende Maria-Josef-Paar steht inmitten einer wohlgetrimmten Buchsbaumhecke, das Kindlein in den Armen, und der zukünftige Christus prachtvoll über ihren Köpfen schwebend.

Der Künstler Carl Liner wurde für seine tollkühne Darstellung der barfüssigen Arbeiterklasse im Fresko aus der Stadt gejagt und konnte nie wieder künstlerisch tätig sein. Das Fresko im Heiligkreuz war sein grösstes und letztes Werk. Zu Lebzeiten wurden seine Bilder nie mehr ausgestellt.

Lange bevor die Kirche Heiligkreuz ihren heutigen Platz fand, diente der Hügel als Galgenhügel.

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Der Kirchenraum ist mächtig, ganz anders als der quadratisch moderne Innenraum der Haldenkirche. Über den Köpfen der Gemeinde thront die Orgel. Wenn sonntags 20-30 Gemeindeglieder sich zum Gottesdienst versammeln, dann wünscht man sich wohl manchmal hundert Jahre zurück, in eine volle Kirche, nur um zu sehen, wie dieser Raum gefüllt aussieht. Dem kleiner werdenden Publikum hat sich die Gemeinde angepasst, indem sie die ersten Reihen Kirchenbänke hat herausreissen lassen und stattdessen moderne Stühle hingestellt hat. So versammelt sich heute die Gemeinde im Halbkreis im Altarraum. Eine kleine, feine, besinnliche Runde.

Nach dem Gottesdienst schüttle ich Hände.

"Wie sagt man Ihnen denn? Frau Pfarrer noch nicht, oder?" - "Ach, einfach Carla." - "Das ist aber nicht besonders angebracht... Dann einen schönen Sonntag, Frau Vikarin!"


Andere Gemeinde, andere Sitten.

Mittwoch, 11. Januar 2012

And the Seelenstriptease Award goes to....

Langsam gehe ich mir selber auf die Nerven! Lernt man doch schon als kleines Kind, dass sich nicht alles immer nur um einen selber dreht. Besonders Mädchen haben sich von dieser in Verruf geratetenen Eigenschaft zu distanzieren. Und als Pfarrerin sollte man erst recht ganz und gar selbstlos sein! Die Kombination meines Geschlechts mit meinem Beruf ist für die vikariätliche Nabelschau denkbar ungünstig.

Denn es dreht sich ganz viel immer wieder um einen selbst. Und ist die Runde fertig gedreht, geht sie wieder von vorne los. Der Fragebogen zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung beinhaltet 210 Punkte zur Selbsteinschätzung. Da soll man sich 210mal auf einer Skala von 1 bis 6 selber einstufen. Zum Beispiel:

Menschen, die sehr schnell Kontakt knüpfen, irrtieren mich.


Manchmal muss man meinen Tatendrang bremsen.


Anderen gegenüber bin ich misstrauisch.


Ich bin frei von Ängsten.


Das ist wie ein besonders langer Brigitte-Persönlichkeitstest, aufgrund dessen ein berufsbezogenes Profil erstellt wird. Hat man sich dann mal durch diese Fragen durchgekaut, zögerlich und zweifelnd, manchmal aber auch beherzt und selbstbewusst angekreuzt, kommt der nächste Abgabetermin: der Vikariatszwischenbericht ist fällig! Hier sind gefragt:

Mein eigener genereller und zusammenfassender Eindruck von mir als Vikarin


Der Stand meines Lernweges in den vier Handlungsfeldern Unterricht, Gottesdienst, Gemeindeaufbau und Seelsorge


Meine Positionierung in Bezug auf neun Kernkompetenzen wie zum Beispiel Teamfähigkeit und innere Überzeugung


Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich? Die grossen Fragen des Lebens liegen in Greifweite und entgleiten doch mit jedem Kreuzchen in weite Ferne. Es ist, wie wenn man sich selber in eine Form giessen müsste, im Hintergrund ständig das Bewusstsein um das Unbewusstsein, das seit C.G. Jung in unseren Köpfen unbekannterweise dauerpräsent ist.

Meine derzeitige Bettlektüre "Die Feigheit der Frauen" von Bascha Mika (ehemalige taz-Chefredakteurin und damit eine der ganz, ganz wenigen Frauen, die je einer grossen deutschsprachigen Tageszeitung vorstanden und deshalb weiss, wovon sie spricht) erinnert mich ständig daran, dass ich mich diesen Kreuzchen und Fragebögen gefälligst zu beugen hätte. Dass ich mich mit diesen Kreuzchen und Sätzen zu einer durchsetzungsfähigen Berufsfrau mausere, die sich nicht so leicht ans Bein pinkeln lässt. Und dass ich meine Gewissensbisse bezüglich meiner Selbstumrundung gefälligst dem hehren Ziel der beruflichen und gesellschaftlichen Gleichstellung der Geschlechter unterzuordnen hätte.

Danke, Bascha Mika! Ihnen widme ich den nächsten Brigitte-Persönlichkeitstest!

Dienstag, 3. Januar 2012

Nostalgie

Ankommen auf Boldern ist ein bisschen wie nochmals von vorne beginnen. Hier lernten wir Vikare und Vikarinnen uns im August gegenseitig kennen. Es war Sommer und warm, sonnig und Aufbruchstimmung, und abends konnten wir draussen sitzen und fühlten uns bei ein, zwei Schluck Wein ein bisschen wie verwegene StudentInnen. Wir gingen aufs Boot, wenn wir abends frei hatten, oder im See baden, und fragten uns, was in diesem Vikariat wohl alles auf uns zukommen würde. Wir rissen Witze über das zukünftige Pfarrersein, aus Verlegenheit vor dem Unbekannten. Es fühlte sich gut an, tollkühn und speziell, als lernende Pfarrerin in eine Gemeinde zu gehen.

Jetzt ist Winter. Wir sitzen abends nicht mehr so lange draussen. Nicht nur, weil die sommerliche Wärme schon lange das Weite gesucht hat (abgesehen von ein paar fehlgeleiteten Frühlingstagen), sondern weil auch die hartgesottenen unter uns als halbfertige Pfarrer und Pfarrerinnen abends ziemlich fertig sind. Die Arbeit in der Gemeinde erfüllt auch längstens das Soll an sozialen Kontakten, die während des Verfassens der Lizentiatsarbeit zu kurz gekommen waren. (Oder in meinem Fall: die Gespräche über Gott, Kirche und die Welt während meines Aufenthalts im super-säkularen London.)

Auf den zweiten Blick ist es doch ziemlich anders als am Anfang. Die ehemals fremden Gesichter sind zu vertrauten Gesichtern geworden, die alle paar Wochen aus dem Nichts auftauchen und ein Gefühl von Normalität vermitteln - wie ein Haufen alter Schulfreunde oder eine Familiensippe. Da fühlt sich der eingeschlagene Werdegang, der sonst für irritiertes Stirnrunzeln sorgt, für ein paar Tage ganz normal an. Vikare und Vikarinnen unter sich. Nächsten Sommer beziehen die ersten ihre Pfarrhäuser und leiten die Gemeinde selber, wie die Grossen, ohne die hin und wieder auftauchende Gruppe von Mitlernenden und ohne die Runden intensiver Selbstreflexion.

Es ist nicht mehr Sommer. Nach dem Abendessen ist es schon lange dunkel. Statt auf dem Vorplatz hoch über dem Zürichsee versammeln wir uns abends im Billardraum, töggelen oder schieben Kugeln über den grünen Tisch, schalten MTV ein und fühlen uns ein bisschen wie unser jugendliches Klientel. Die tiefschürfende Verarbeitung von Erlebtem und Gelerntem sparen wir uns, denn eigentlich sind wir einfach froh, dem ewigen Feedback in der Gemeinde zu entkommen, dem Ausgestelltsein und öffentlichen Ausprobieren. Wahrscheinlich wirken wir wie spätberufene KonfirmandInnen. Nur dass keiner wirklich versteht, worum es in dieser Sendung auf MTV eigentlich genau geht (irgendwelche junge Menschen müssen mit ihren grossen Autos nach Miami in eine WG fahren). Die Jugendlichen in den Gemeinden werden es uns nächste Woche erklären können...

Montag, 2. Januar 2012

War da was?

Da war doch was... Weihnachten, Silvester, Neues Jahr. War das schon?

Einmal reingerast, durchgeschüttelt und hinten wieder rausgespickt reibe ich mir ungläubig die Augen. Blick zurück auf die letzten zehn Tage. Wow! Das machen Pfarrer und Pfarrerinnen also Jahr für Jahr! Das Gesamtchaos lässt sich kaum in Worte fassen, obwohl ich mich arbeitstechnisch nur gerade der Hälfte der zu absolvierenden Gottesdienste angeschlossen habe: Heiligabend um 22:30 und Neujahr um 12 Uhr. Kombiniert aber mit der Nervosität der Lernenden, der überdurchschnittlich vollen Kirche und der erstmaligen Einsetzung des Abendmahls zusammen mit dem Lehrpfarrer war die Intensität stark genug. Am Heiligabend war ich gesamtfamiliär gesehen mit meiner konsequenten Nüchternheit denn auch auf weiter Flur alleine. Während sich meine Liebsten richtig feierlich gehen lassen konnten, sich dem Glanz der Christbaumlichter und dem schmelzenden Käse im Racletteofen hingaben, repetierte ich im Kopf wieder und wieder die Einsetzungsworte des Abendmahlweins. "Er nahm den Wein, dankte, gab ihn seinen Jüngerinnen und Jüngern und sprach: nehmt und trinkt. Der Wein ist ein Zeichen der Tränen, die für euch vergossen worden sind." Der dramaturgische Anspruch kam noch hinzu, und so übte ich mit dem Weissweinglas am Familientisch die entsprechende Bewegung, was mich einigermassen beruhigte und lockerte.

In der Kirche, neben den weihnächtlichen Routiniers des Gemeindeteams, tigerte ich aufgeregt die Sakristei auf und ab und sprach mir die Worte nochmals vor dem Spiegel vor. Es war soweit. Die wunderschön feierlich geschmückte Kirche war voll, die Kirchenglocken verstummten. Das erste Abendmahl ging vorbei, wie damals die erste Predigt, die erste Schullektion und das erste Jugend-Weekend. Es war feierlich und schön und ich fühlte mich dabei überhaupt nicht so fehl am Platz, wie ich das im Vorfeld befürchtet hatte. Manche Dinge muss man einfach ausprobieren und schauen, wie sich das anfühlt. Neben mir mein Lehrpfarrer, der im Notfall die Situation schon gerettet hätte, vor mir die Konfirmanden und Konfirmandinnen, die mir ermutigend zulächelten, und in der Gemeinde viele bekannte Gesichter, zu denen ich mittlerweile dazu gehörte. Die verinnerlichten Worte kamen, der Kelch zerbrach nicht auf dem Boden und die Atmosphäre in der Kirche erreichte einen feierlichen Höhepunkt. Da war was.

Die Rolle der Pfarrerin wächst mir ganz allmählich an den Leib. Das fühlt sich gleichzeitig eigenartig und erfreulich an. Rückblickend auf die erste Hälfte des Vikariats (weil Jahresrückblicke ja irgendwie dazu gehören) finde ich diesen Beruf einen der schönsten der Welt. Man wächst da so rein - ja, sogar in den Pfarrberuf! Einzelne Handlungen und Abläufe werden zur Gewohnheit: wie das Predigen, das Einsetzen des Abendmahls und das laute Mitsingen der Kirchenlieder. Ein nicht ganz gewöhnlicher Beruf, zugegebenermassen, aber ein emotionaler, engagierter, sozialer und feierlicher. Ein Beruf, der mich als Menschen herausfordert und aufrüttelt, der Menschen zusammenbringt und begleitet.

Ja, da war was.